nd-aktuell.de / 08.12.2017 / Politik / Seite 8

»Wach auf, Europa«

Katalanischer Wahlkampf im belgischen Exil vor dem Urnengang am 21. Dezember

Ralf Streck, Brüssel

Schon am frühen Donnerstag stellte sich die Frage, ob sich Brüssel in die katalanische Metropole Barcelona verwandelt hat. »Freiheit für alle politischen Gefangenen«, hallte es durch die Straßen der belgischen Hauptstadt. Skandiert wurde auch: »Dieses Europa ist eine Schande.« Zehntausende Menschen, die aus ganz Katalonien angereist waren, liefen wie Ester Pineda mit den verschiedenen katalanischen Fahnen geschmückt zunächst zum Jubelpark und später mit einem Demonstrationszug die Stadt. Die belgische Polizei sprach von 45 000 Teilnehmern.

Aus dem warmen und sonnigen Katalonien haben die Katalanen ihren Konflikt mit Spanien an diesem grauen, kalten und regnerischen Dezembertag ins »Herz Europas« getragen, wie Ester erklärt. Für einen Tag wurde Brüssel, unterstützt von vielen Flamen, eine Art katalanische Metropole. Die mehr als 1300 Kilometer wurden mit 250 Bussen, gecharterten Flugzeugen, Zügen und Privatautos zurückgelegt. Auch Pineda fuhr aus Badalona nach Belgien, um ihren Präsidenten Carles Puigdemont und vier Minister der »legitimen katalanischen Regierung« zu unterstützen. Die befinden sich seit gut fünf Wochen hier im Exil. Sie konnten am Europaparlament kurz vor der Abschlusskundgebung ein Bad in der Masse der eigenen Bevölkerung nehmen. »Puigdemont Präsident« und »Wir sind nicht alle, es fehlen die Gefangenen«, schallte es ihnen entgegen.

»Wake up Europe« (Wach auf Europa), war das Motto der Demonstration. Mit ihr soll erreicht werden, dass die EU-Institutionen endlich Druck auf Spanien machen, um eine Lösung für den Konflikt mit Katalonien zu erreichen. Dafür gibt es für Pineda nur zwei Möglichkeiten: Entweder muss die am 27. Oktober ausgerufene Katalanische Republik anerkannt werden oder man vereinbart mit Spanien ein Referendum nach schottischem Vorbild, um definitiv zu entscheiden.

Spanien hatte das katalanische Referendum am 1. Oktober verboten. Seine Durchführung wurde von polizeilicher Repression begleitet. Nach der Unabhängigkeitserklärung löste die rechte spanische Regierung mithilfe der Sozialisten die katalanische Regierung ab und ordnete Neuwahlen für den 21. Dezember an. So hat am Dienstag der absonderlichste Wahlkampf der spanischen und katalanischen Geschichte begonnen. In Brüssel trat nicht nur Puigdemont auf, sondern auch die Vizepräsidentin der Republikanischen Linken (ERC) Marta Rovira und der Vertreter der linksradikalen CUP Joan Coma, der zum »zivilen Ungehorsam« aufrief und erklärte: »Wir werden für unsere Freiheit nicht um Erlaubnis bitten.« Im Exil trafen sich die drei Listen, die die Unabhängigkeit wollen, zum gemeinsamen Auftritt. Sie hoffen auf einen Wahlsieg, um den Prozess gestärkt fortzusetzen. Rovira verlas vor der Masse einen Brief von Oriol Junqueras. Der ERC-Chef sitzt weiter im spanischen Gefängnis, ebenso wie der ehemalige Innenminister Joaquin Forn, der auf der Liste von Puigdemont kandidiert. Beiden schreibt Spanien eine besondere Rolle zu, weshalb sie nicht, wie sechs Kollegen, am Wochenanfang auf Kaution freikamen. Junqueras führt die ERC-Liste an, die laut Prognosen mit rund 30 Prozent vorne liegt. Er fühlt sich nicht »allein« im Knast und fordert alle zur Wahl auf: »Jede Stimme ist ein Schrei für die Freiheit.« Rovira befürchtet, dass es keine »sauberen« Wahlen werden könnten, da Spanien wisse, »dass wir erneut gewinnen werden«. Puigdemont konnte zufrieden vor die Menge treten. Am Vortag hatte der Oberste Gerichtshof den internationalen Haftbefehl gegen ihn und seine Exil-Minister zurückgezogen, bevor die belgische Justiz über den Auslieferungsantrag entscheiden konnte. Für ihn ist klar, dass man einer Ablehnung zuvorkommen wollte, weil die Vorwürfe der »Rebellion und Aufruhr« vor einer »unabhängigen Justiz« haltlos seien. Zurück in den spanischen Staat kann er aber nicht. Dort besteht der Haftbefehl weiter. »Europa darf nicht nur auf die Staaten hören, sondern muss es auch auf die Bürger«, sagte er vor dem Europaparlament. »Menschenrechte kennen keine Grenzen«, fügte er an und forderte ein »Europa freier Menschen«. Er schickte aus Brüssel Kraft an die Gefangenen, darunter auch Jordi Sànchez der bisherige Anführer des großen Katalanischen Nationalkongress (ANC), der auf seiner Liste auf Platz zwei kandidiert und der Präsident von Òmnium Cultural Jordi Cuixart, die sogar schon fast zwei Monate einsitzen.