nd-aktuell.de / 09.12.2017 / Kultur / Seite 10

Auf den Schrank gekommen

Barrie Kosky inszenierte «Anatevka» an der Komischen Oper Berlin

Roberto Becker

Anatevka« in Ostberlin, ein paar Gehminuten vom Holocaust-Mahnmal entfernt, von Barrie Kosky inzeniert. Das hat seine Richtigkeit, das ist politisch korrekt und grandios gemacht. Es passt an diesen Ort, zu diesem Intendanten und Regisseur. Und zu seinem Publikum. Es hat obendrein, leider, einen direkten Bezug zu einer Gegenwart, in der Worte wie »Flüchtling« nichts Historisches, sondern etwas sehr Aktuelles haben.

»Anatevka« am gleichen Ort, an der Komischen Oper Berlin, in den 1970er Jahren, einer Zeit mit einem klaren Koordinatensystem, für und gegen wen im Nahen Osten der damals real existierende Staat und seine Bürger Position zu beziehen hatten. Was damals auf die Bühne kam, war eine kultur-politische Großtat. Irgendwie gegen den Strich. So subversiv, wie eben nur Kunst sein kann. Und es war wohl auch eine Machtdemonstration des Gründers und Übervaters der Komischen Oper, des Regisseurs Walter Felsenstein.

Klar, dass der heutige Intendant Barrie Kosky auf die Idee kommen musste, im 70. Jubiläumsjahr des Hauses mit einer eigenen Neuinszenierung daran zu erinnern. Aber was ist »Anatevka« eigentlich? Ein Musical? Oder eher ein Schauspiel mit Musik? Jedenfalls ist es ein Ausflug in eine untergegangene Schtetl-Welt der Juden irgendwo im Russland eines Zaren, bei dem gelegentliche Pogrome zum politischen Normalzustand gehörten. Zum Stück gehört der berühmte Stoßseufzer-Hit des Milchmanns Tevje: »Wenn ich einmal reich wär«. Und eine Geschichte, gegen deren emotionales Überwältigungspotenzial man sich kaum wehren kann.

Das rührt nicht etwa daher, dass diese abgeschottete, auf ihren Traditionen ruhende jüdische Mikrowelt so toll wäre. Im Gegenteil. Oder, wie der berühmte Milchmann in seinen Zwiegesprächen mit seinem Herrgott sagen würde: andererseits ... Das Überwältigende ist Tevjes tiefe Menschlichkeit, wenn er sich auf das Neue einlässt und, zumindest bei den Partnerwünschen von zweien seiner Töchter, die starren Traditionen zu überwinden vermag. Großartig, wie er seiner Golde einen Traum vorspielt und die tote Großmutter aufmarschieren lässt, damit auch seine Frau akzeptiert, dass seine älteste Tochter nicht den alten, aber reichen Metzger, sondern den armen, aber von ihr innig geliebten Schneider heiraten darf - Dorf-Skandal hin oder her.

Des Milchmanns Hütte und das ganze Schtetl Anatevka sind im Bühnenbild von Rufus Didwiszus auf den Schrank gekommen. Kosky wollte keine Chagall-Folklore, aber doch bei der Sache bleiben. Und das ist grandios gelungen. Ein verwischter Wald (à la Gerhard Richter) im Hintergrund. Und auf der Drehbühne ein Gebirge aus Schränken. Die alles sind: draußen und drinnen und die Türen dazwischen. Das funktioniert. Es rettet aber nicht vor der Überwältigung. Allein schon Max Hopp als Milchmann Tevje und Dagmar Manzel als seine Frau Golde reißen jede optische Verfremdung wieder ein. Was ist schon Anatevka, sagt Golde im Anpassungsmodus an die aktuelle Vertreibung am Ende: ein Stuhl, ein Bett, ein Schrank. Was die Russen sich nicht schnappen, ist schnell verladen auf den Wagen des Milchmanns.

Kosky kriegt das Kunststück fertig, ein Anatevka auf die Bühne zu stellen, das ohne jeden Folklore-Kitsch auskommt und dennoch tief berührt. Für die beiden zentralen Rollen so maßgeschneiderte Darsteller zu haben, die auch singen können, aber vor allem als Menschen mit Herz und Gefühl, Schnauze und Witz überzeugen, ist die halbe Miete. Das geht aber so weiter: Ob nun Jens Larsen als der geprellte Bräutigam Lazar Wolf oder die wunderbare Barbara Spitz als nicht unterzukriegende Heiratsvermittlerin Jente, ob Johannes Dunz als armer Schneider Mottel, der seine Zeitel (Talya Lieberman) und Ezra Jung als smarter Revoluzzer Perchik, der seine Hodel (Alma Sadé) bekommt, man kann gar nicht anders, als mit ihnen zu fühlen.

Nicht nur, weil Regisseur Kosky einen untrüglichen Instinkt für Timing und Tempo hat, wird dieses neue »Anatevka« ein Wurf. Er hat auch den fabelhaft spielfreudigen Chor und ein perfektes Dutzend Tänzer, die jüdisch und russisch tanzen können (Choreografie: Otto Pichler). Und er hat den Dirigenten Koen Schoots, der das Orchester der Komischen Oper derart mit Broadway-Schmiss auflädt, dass es eine Freude ist. Der anhaltende Erfolg dieses Stücks ist eine ausgemachte Sache! Da gibt es kein Andererseits.

Nächste Vorstellungen: 9., 16.12.