nd-aktuell.de / 11.12.2017 / Kultur / Seite 17

Die Elite karikiert

Bei den Europäischen Filmpreisen in Berlin räumte »The Square« von Ruben Östlund ab

Katharina Dockhorn

Im Haus der Berliner Festspiele wurde nach der Verleihung der Europäischen Filmpreise nach skandinavischer Tradition mit einem lauten Wettschreien gefeiert. »The Square« von Ruben Östlund hatte verdient sechs der begehrten Statuetten abgeräumt - unter anderen für den Film, die beste Komödie, Regie und Drehbuch. Der schwedische Regisseur seziert in seiner skurrilen Komödie die hohlen Phrasen eines oberflächlichen Kunstbetriebs und hält der wohlhabenden, sich selbst abschottenden Elite Europas einen Spiegel vor, die soziale Brennpunkte erst entdeckt, wenn ihr Eigentum weg ist.

Der genaue Blick auf eine dysfunktionale Welt einte die fünf nominierten Spielfilme. Es sind wahrhaft europäische Filme, von starken individuellen Handschriften geprägt, thematisch in den Gesellschaften des jeweiligen Landes verwurzelt, und doch universell. Aids wurde nach Ausbruch der Krankheit nicht nur in Frankreich als Schwulenkrankheit beiseitegeschoben, woran »120 BPM« von Robin Campillo erinnert. Geflüchtete machen auf dem gesamten Kontinent ähnliche Erfahrungen wie der Syrer im Finnland des Aki Kaurismäki in »The Other Side of Hope«. Auch die an Metapher reichen Filme aus Osteuropa sind uns nicht fremd: Die Wohlstandsverwahrlosung von Kindern in Russland in Andrey Zwyagintzevs »Loveless« ebenso wie die Sprachlosigkeit und Entfremdung von Menschen in Ildikó Enyedis »Body & Soul«.

Die ungarische Regisseurin konnte sich mit ihrer auf der Bühne in Tränen aufgelösten Hauptdarstellerin Alexandra Borbelý über den Darstellerpreis freuen. Ansonsten gingen die anderen Filme neben »The Square«, dem Gewinner des Filmfestivals von Cannes, unter. Ein Phänomen, das sich seit Jahren wiederholt. Was Fragen nach dem Abstimmungsmodus unter den 3200 Mitgliedern der Europäischen Filmakademie aufwirft.

Man muss schon ins Jahr 2006 zurückblicken, um mit Florian Henckel von Donnersmarcks »Das Leben der Anderen« einen Gewinnertitel zu entdecken, der auf keinem der drei großen europäischen Festivals lief. In diesem Jahr stand es nach den Nominierungen drei zu zwei zwischen Cannes und Berlin, zwei Treffen der Filmbranche mit unterschiedlichen Philosophien. An der Cote d’Azur wird das Werk einzelner Filmemacher gepflegt. Wer einmal im Wettbewerb war, wird auch mit einem schwächeren Film wieder eingeladen. Cannes hat bei der Suche nach Talenten oft von der Berlinale profitiert, die Filmemacher wie Fatih Akin oder Maren Ade entdeckt oder Ildikó Enyedi wiederentdeckt hat.

Für die Filmpreis-Nominierungen stellen die Kuratoren und Jurys der Festivals die Weichen, obwohl jeder Produzent seinen Film vorschlagen kann. Aber nur Akademiemitglieder aus den 20 Ländern, die in der Europäischen Filmakademie die meisten Mitglieder stellen, treffen aus den Vorschlägen die Vorauswahl. Jurys und Experten ergänzen deren Favoriten. Was auf den ersten Blick fair klingt, wird für viele Filme zum Nachteil. Wie viele Akademiemitglieder können sich die Zeit nehmen, all die Filme zu schauen? Da ist die Versuchung groß, sein Kreuzchen beim Bekannten zu machen.

Deutsche Filmemacher räumten die beiden Publikumspreise ab. Fatih Akin freute sich schon im Sommer über die Ehrung von »Tschick« als bester Kinder- und Jugendfilm. Kids aus ganz Europa hatten ihn gekürt. Sein Drama »Aus dem Nichts« war noch nicht eingereicht. Dafür freute sich Maria Schrader riesig über die Begeisterung des europäischen Publikums für ihr Stefan-Zweig-Biopic »Vor der Morgenröte«.

Erstmals seit Langem glänzten die Nominierten nicht durch Abwesenheit bei der Gala. Juliette Binoche und Josef Hader, Claes Bang, Paula Beer und Jean-Louis Trintignant waren in die deutsche Hauptstadt gekommen, um das Kino und den 30. Geburtstag des Preises zu feiern. Und die Freilassung des ukrainischen Filmemachers Oleg Sentzow zu fordern, der in Russland zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde. Umso bedauerlicher, dass das deutsche Fernsehen durch Abstinenz glänzte. Aber wen wundert’s, wenn dieses das eher langweilige Event eines Verlagshauses zur besten Sendezeit stundenlang überträgt.