nd-aktuell.de / 14.12.2017 / Kultur / Seite 20

Ein Donnerbalken, der Wünsche erfüllt

Zur Weihnachtszeit wenden sich viele Russen mit ihren Wünschen an übernatürliche Kräfte

Axel Eichholz, Moskau

Es weihnachtet in Moskau, obwohl das christliche Fest dort erst auf den 6. Januar fällt, den 25. Dezember nach dem alten Julianischen Kalender. Die Tage vor und nach Silvester gelten in Russland als die günstigste Zeit für Wahrsagungen. Es gibt mehrere Orte, wo dort geäußerte Wünsche angeblich immer in Erfüllung gehen.

Der Sophienturm im Neuen Jungfrauenkloster, wo Zar Peter I. seine Halbschwester nach einem misslungenen Putschversuch gegen ihn einkerkern ließ, ist von unten bis oben mit Zetteln beklebt. »Heilige Sofia, hilf mir, das EGSamen in Rechtschreibung abzulegen«, lautet ein offensichtlich hoffnungsloser Hilferuf. »Mach mich ein bisschen klüger, damit sie mich nicht als dumme Ziege beschimpfen«, schreibt eine andere Bittstellerin. Der griechische Name Sophia bedeutet »die Weise«.

Im Donskoi Kloster besuchen Frauen und Gangster das Grab der Gutsbesitzerin Darja Saltykowa. Die sadistisch veranlagte »Saltytschicha« hat Hunderte von Leibeigenen beiderlei Geschlechts zu Tode gequält und hingerichtet. Besonders gern schnitt sie ihren Opfern die Geschlechtsteile eigenhändig ab. Die große Zarin Katarina II. ließ sie per Dekret lebenslang in einem Grubengefängnis einsperren und verbot es ihr, sich als Frau zu bezeichnen. Darja ließ sich aber nicht unterkriegen. Mit 50 verführte sie ihren Gefängniswärter und brachte ein Kind zur Welt.

Damen wenden sich bei Liebeskummer und Kinderlosigkeit an sie. Mafiosi verehren Darja, weil sie vor Zuchthaus und Gefängnis jeder Art keine Angst empfand. Auf dem Grabhügel liegen immer ein Paar Blumen und Bonbons. Hartgesottene Männer stellen einen mit einer Scheibe Schwarzbrot zugedeckten Becher voll Wodka hin.

Ein weiterer Geheimtipp ist eine Toilette im Kino Nachtigall schräg gegenüber vom Haupteingang zum Moskauer Zoo. Ihre Wände sind mit alt-sowjetischen Plakaten beklebt. Wünsche, die Kinobesucher darauf schreiben, werden nicht entfernt. Angeblich erfüllen sie sich von alleine. »Ich bin 18 und immer noch eine Jungfrau«, lautet ein Verzweiflungsruf. »Helft uns, ein Kind zu zeugen und zur Welt zu bringen«, fleht ein anderer. Ein volkstümlicher Spruch an der Wand erläutert den absonderlichen Namen der Einrichtung: »Wo es keine Singvögel gibt, muss der A... als Nachtigall herhalten.«

Der größte Andrang herrscht im Flur des Hauses Nummer 10 in der Großen Sadowaja, wo Michail Bulgakow die Helden seines Romans »Der Meister und Margarita« ansiedelte. Zu Füßen einer überlebensgroßen Figur des Schriftstellers steht ein Kasten mit der Aufschrift »Liebespost«. Die Briefe werden bis zum Anbruch der warmen Jahreszeit aufgehoben, an Luftballons befestigt und losgeschickt. Der Satan Woland wache persönlich darüber, dass es keine Schummeleien gibt, heißt es.