Mer ham a Neunerlaa gekucht ...

Im Erzgebirge wird am Heiligen Abend in vielen Familien traditionell das Neunerlei gegessen.

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 7 Min.

Er ist müde und ihm ist kalt. Mühsam schleppt sich der Mann nach einer langen, schweren Schicht in der Erzgrube durch die engen Gassen nach Hause. Einzig die Schwibbögen, die in der Weihnachtszeit in fast allen Häusern im Erzgebirge in den Fenstern leuchten, weisen ihm den Weg. Seine Mütze hat er tief in die Stirn gezogen, die eiskalten Hände in den Taschen seines alten, viel zu dünnen Mantels vergraben. Dringend bräuchte er einen neuen, doch den kann er sich nicht leisten. Er ist froh, wenn er irgendwie die Mäuler seiner immer größer werdenden Familie stopfen kann. Vier Kinder warten zu Hause, bald wird das fünfte geboren. Ihm ist schwer ums Herz, wenn er an seine Familie denkt. Wie oft schon haben sich die Kinder hungrig in den Schlaf geweint, wie oft ist seine Frau verzweifelt: Weil sie nicht weiß, was sie morgen auf den Tisch bringen soll, weil sie Angst davor hat, dass ihn die schwere Arbeit unter Tage krank macht. Was soll dann bloß aus ihr und den Kindern werden?

Der Mann versucht, die trüben Gedanken beiseitezuschieben. Weiter, nur weiter durch den dichten Schneefall, bald ist er zu Hause. Nur noch wenige Tage sind es bis Heiligabend! Bei dem Gedanken wird ihm gleich ein bisschen wärmer ums Herz. Er freut sich auf die strahlenden Augen seiner Kinder angesichts der Geschenke, die er geschnitzt und gebaut hat, als sie längst in ihren Betten lagen - zwei Puppen, zwei Pferdekutschen und für alle gemeinsam einen neuen Schlitten. Fast noch mehr aber freut er sich auf das traditionelle festliche Essen in der Heiligen Nacht - das Neunerlaa!

So ähnlich wird es noch vor 100 Jahren im Erzgebirge vielen Familien ergangen sein. Die Menschen waren bitterarm - Hunger und Krankheiten ihre ständigen Begleiter, und nicht selten klopfte Gevatter Tod viel zu früh an die Türen der armseligen Hütten. Umso mehr wurden Bräuche gepflegt. Wie das Neunerlei - oder wie die Erzgebirgler sagen: das Neunerlaa. Auch wenn das ganze Jahr über das Essen stets zu knapp war, irgendwie schaffte es die Hausfrau, für das traditionelle Festessen am Heiligen Abend etwas beiseitezulegen. Denn das Neunerlei bedeutete für die Menschen mehr, als einmal im Jahr richtig satt zu werden.

Die Armut ist inzwischen aus den Häusern verschwunden, das Neunerlei aber gehört bei vielen Familien nach wie vor zu Weihnachten. Nach einem festen Ritual werden am Heiligen Abend neun Speisen aufgetragen - jede hat ihre besondere Bedeutung. Auch wenn es dabei in den unterschiedlichen Orten zahlreiche verschiedene Variationen der Zusammensetzung gibt, die Grundbestandteile des Neunerleis sind über die Jahrhunderte hinweg im Wesentlichen gleich geblieben.

Schon am Vortag ziehen verlockende Düfte durchs Haus, denn gekocht wird bereits am 23. Dezember. Nicht nur, damit die Köchin oder der Koch in Ruhe mit am Tisch sitzen können. Die Tradition verlangt auch, während es Festmahls nicht aufzustehen. Hält man sich nicht daran, wird man demnächst bestohlen, oder die Hühner verlegen die Eier. Ganz so genau nimmt man es zwar heute nicht mehr, aber eines bleibt: Pünktlich 18 Uhr ruft die Hausfrau alle an den festlich gedeckten Tisch - die Kerzen brennen, und Schüsseln und Töpfe sind bis zum Rand gefüllt. Das bringe volle Töpfe und helle Tage über das ganze Jahr hinweg, heißt es. Wenngleich das in früheren Zeiten in den meisten Familien ein frommer Wunsch blieb, einmal im Jahr wenigstens wollte man daran glauben, dass es das Leben irgendwann vielleicht doch noch gut mit einem meint.

Alle drei Reiche der Erde sollen eine Zutat zum Neunerlaa beisteuern: Die Luft eine Gans, die Erde Bratwurst oder Schwein und das Wasser den Hering. Das Federvieh sorgt dafür, »doß ens Gelick trei bleibt« (einem das Glück treu bleibt), Bratwurst oder Schwein versprechen, »Harzhaftigkeit un Kraft zu bewohrn« (Herzlichkeit und Kraft zu bewahren), und der Fisch ist dafür zuständig, »doß es net an grußen Gald fahlt« (dass das große Geld nicht ausgeht).

Damit aber das große Geld den Weg ins Haus findet, gehören Schüsseln voller dampfender Klöße auf den Tisch. Doch Achtung: Die Klöße bitte nicht zählen, und wenn man es doch tut, dann muss unbedingt eine ungerade Zahl herauskommen! Genau umgedreht sollte es sich mit der Anzahl der Gäste am Tisch verhalten: Die darf niemals ungerade sein - ansonsten stirbt bald ein Familienmitglied. Um doppelt abzusichern, dass dieses Unglück nicht eintritt, wird immer ein Gedeck mehr aufgelegt - für den fremden Gast, der noch kommen könnte. Unter die Teller gehört eine kleine Münze. Warum? Na, damit im kommenden Jahr immer genug Geld im Haus ist. Auch beim nächsten Gang, dem Linseneintopf, geht es ums Materielle, diesmal ums Kleingeld: »doß eins kleene Gald net ausgieht«, weiß der Volksmund.

Doch das Neunerlaa »kümmert« sich auch um andere Werte: um Freude und Glück beispielsweise. Dazu allerdings bedarf es dringend Roter Beete in der Speisenfolge - in welcher Form, ist letztlich egal. Die gesunde Knolle wird im nächsten Jahr nicht nur für gutes Wachstum des Getreides sorgen, sondern auch für »Freid un Gelick un rute Backen« (Freude und Glück und rote Wangen). Auch Sauerkraut, das zumeist mit der Bratwurst und Kartoffelsalat serviert wird, gehört unbedingt auf den Tisch, »damit ens Labn net sauer wird« (damit einem das Leben nicht sauer wird). Kompott potenziert die Wirkung vom Sauerkraut noch. Ein paar Löffel davon reichen, »doß man sischs ganze Labn free kah« (dass man sich des Lebens erfreuen kann). Rührt man gar ein paar Nüsse oder Mandeln unter, »fährt dr Labnswogn gut geölt dorchs neie Gahr« (läuft der Lebensalltag im nächsten Jahr gut ab).

Bleiben noch ein paar Speisen für die Gesundheit. Semmelmilch oder Buttermilch stehen da zur Auswahl, wobei Erstere die bessere Wahl ist. Denn während Buttermilch nur bewirkt, »doß mr ka Koppweh hat« (dass man keine Kopfschmerzen bekommt), wirkt Semmelmilch ganzheitlich und sorgt dafür, »doß en de Nos net truppt in neie Gahr« (dass man nächstes Jahr nicht krank wird).

Krank wird man zwar nicht, wenn man sich stundenlang derart den Magen vollschlägt, aber mit einem ruhigen Schlaf ist’s zumindest für diese Nacht vorbei. Es sei denn, man hält sich an eine weitere Regel des Neunerlaa: nämlich sich zu mäßigen und sich von jeder aufgetragenen Speise nur wenige Löffel voll auf den Teller zu laden. Den muss man dann aber auch wirklich abessen, damit das Wetter im neuen Jahr gut wird. Einzig der Mutter gebührt das Privileg, einen Happen auf dem Teller liegenlassen zu dürfen.

Theoretisch ist das mit der Mäßigung beim Essen ja klar, sich daran zu halten indes ziemlich schwierig, vor allem, wenn man das Neunerlaa von einem so versierten Koch wie Ronny Weiß serviert bekommt. Gemeinsam mit seiner Frau Regina führt er in Seiffen das Hotel »Buntes Haus«. Vor 480 Jahren im Seiffener Grundbuch mit der Nummer 1 eingetragen, ist es nicht nur das älteste Gasthaus, sondern das älteste Haus überhaupt im Ort. Erbaut wurde es als Erbgericht. Hier fanden Gerichtsprozesse statt - und der Richter besaß gleichzeitig das Schankrecht, das von Generation zu Generation weitervererbt wurde. Ronny und Regina allerdings haben es nicht ererbt, sondern 2009 mit dem Kauf des Hauses erworben. Seitdem führen es der Erzgebirgler und die Bayerin in alter Tradition, wozu in der Weihnachtszeit eben auch das Neunerlei gehört. So können auch Menschen, die nicht mit den Bräuchen des Erzgebirges aufgewachsen sind, sich Teller für Teller die Aussicht auf Glück, Gesundheit und materiellen Wohlstand einverleiben und zwischen den Gängen Geschichten vom Neunerlaa und aus längst vergangenen Zeiten lauschen.

Spät in der Nacht, wenn alle Töpfe und Schüsseln geleert sind, hilft ein Spaziergang durch Seiffen, den rebellierenden Magen zu beruhigen. Wie seit Jahrhunderten beleuchten die Schwibbögen in den Fenstern den Weg und schmücken Räuchermännel, Pyramiden, Lichterengel und Bergmänner die Wohnstuben, aus denen die Angst der Bewohner um das Morgen längst verbannt ist.

Infos

Hotel »Buntes Haus« Seiffen: Tel.: (037362) 776-0
www.buntes-haus.com

Auszug aus dem Heiligohmdlied auf Youtube zum Anhören: dasND.de/Heiligohmdlied

Literatur:
Ehrhard Heinold, »Neunerlei und Gänsebraten – Eine literarisch- kulinarische Reise ins Erzgebirge. Mit einem erzgebirgischen Küchen-ABC«, Verlag der Nation, 239 S., 15,95 €

Allgemeine Infos zum Weihnachtsland Sachsen:
Tel.: (0351) 49 17 00 www.sachsen-tourismus.de

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