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Die Gegenwart

Angsthasen II

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 2 Min.

»Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster«, klagte der italienische Kommunist Antonio Gramsci 1930 in seinen »Gefängnisheften«. Auch heute fühlt es sich an, als lebten wir in einer diffusen Zwischenphase. Der Kapitalismus hatte seine besten Jahre offenbar hinter sich, aber eine starke emanzipatorische Bewegung, die das Jetzt infrage stellt, ist nicht in Sicht. Zwar gab und gibt es Momente der Selbstbehauptung, doch die Abwehrkämpfe gegen den Rückschritt überwiegen. Die Krisen kommen gefühlt in immer kürzeren Abständen, bisher konnte sich die tausendmal totgesagte Gesellschaftsformation aber immer wieder erneuern, stärken und die meisten Kräfte ihrer Gegner aufnehmen. Ja, ich meine dich, grüner, digitaler, diversitätsbewusster Neoliberalismus, du cleverer Schlawiner!

Ich habe Angst, dass dieser permanente Zustand der Unsicherheit anhält, das prekäre Leben im Kleinen sich auch im Großen verfestigt. Genau genommen kenne ich es gar nicht anders. Geboren in einem sterbenden Staat, aufgewachsen in den tristen Nachwendejahren, Jugend im »Krieg gegen den Terror« verbracht, junges Erwachsenenleben von Finanz-, Staatsschulden-, Repräsentations- und Umweltkrise geprägt. Seit ich mich bewusst erinnern kann, hangelte man sich als Gesellschaft irgendwie so durch. Nicht zynisch, nicht apathisch werden, fordert regelmäßig mein Spiegelbild morgens im Bad, ich schwanke zwischen Auslachen und Mitschreiben.

Was bleibt in dieser Situation? Die alte studentische Weisheit, niemals länger als zwei Wochen im Voraus zu planen, wird zur neuen Lebenseinstellung. Die Lust am Fatalismus zelebriert man mit dem gemeinsamen Grölen des Liedes »Hurra, diese Welt geht unter« der Rapgruppe KIZ. Geduld scheint notwendig; Journalisten sind allerdings nicht gerade bekannt für diese Tugend. Sebastian Bähr

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