Das Gespenst

Angsthasen I

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 2 Min.

Es hatte kein Gesicht, war nur eine weiße Masse. Nie hat es mir Schlimmes getan, mich noch nicht mal angerührt. Vielleicht war es bloß ein, zwei Mal hinter dem Schrank am Ende des dunklen Flurs hervorgekommen. Aber ich wusste, dass es dort lauerte. Das Schreckliche war: Meine Beine trugen mich von selbst dorthin, während ich in der Tiefe ahnte, dass ich träumte. Nur wenn ich erwachte, würde ich der Bedrohung ausweichen können. Da war der »springende Nähtisch« im Wohnzimmer sogar gefährlicher. Während er sich tickend auf mich zubewegte, wollte er mich zum offenen Fenster hin treiben. Aber springen konnte ich nicht.

Das Schlimme war die Angst vor der Angst, aus der man sich hätte befreien können, wenn man aufgewacht wäre. Nach der Mutter rufen! Das wäre die Rettung. Aber so sehr ich mich bemühte, ich hatte keine Stimme. Noch heute erinnere ich mich an die krampfhaften Befreiungsversuche und weiß nicht, wie ich diese Angstträume deuten soll.

Ein Vorschulkind, das im Frieden aufwuchs. Fantasiebegabt, das ja. Die Mutter indes konnte es sich zu dieser Zeit gar nicht leisten, zu ihrer tatkräftigen Nüchternheit Abstand zu haben. Der Vater über die Woche weg beim Talsperrenbau, sie mit zwei kleinen Kindern und den alten Schwiegereltern in der Wohnung allein. Sie lachte, als ich ihr endlich von meiner nächtlichen Furcht zu erzählen wagte, nahm mich an die Hand und führte mich zu dem weiß bezogenen Bügelbrett, das hinter dem Schrank lehnte.

Wenn sich nur alle Ängste so leicht auflösen ließen!

Irmtraud Gutschke

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal