nd-aktuell.de / 10.01.2018 / Politik / Seite 20

Der Kampf um die Wände

Kein Platz für Graffiti in Singapur und Sprayer riskieren Gefängnis oder Stockhiebe

Zubaidah Jalil, Singapur

Der Palästinenserjunge blickt entschlossen. Nur die Augen sind zu sehen, der Rest des Gesichts ist verhüllt. »Für Palästina mit Liebe«, steht auf dem martialischen Gemälde auf einer Wand im Somerset Skate Park in Singapur geschrieben, eine Huldigung an die Opfer der zweiten Intifada. Keine 24 Stunden nach Fertigstellung ist das Wandgemälde verschwunden. Auch wenn es auf einer für öffentliche Kunst freigegebenen Wand prangte, wurde es zum Opfer im Kampf um öffentlichen Raum zwischen Künstlern und Regierung.

Während unerlaubte Graffiti in vielen Ländern ein Bagatelldelikt sind, können sie in Singapur mit Gefängnis oder Prügelstrafe geahndet werden. Das bekam 1994 US-Teenager Michael Fay zu spüren: Er wurde zu vier Monaten Gefängnis und sechs Hieben mit dem Rohrstock verurteilt, weil er Autos besprüht hatte. Ähnliche Urteile trafen einen Schweizer 2010 und zwei Deutsche 2015, die Züge in einem Depot besprühten.

Trotz des abschreckenden gesetzlichen Rahmens ist in Singapur um die Jahrtausendwende eine Untergrund-Graffiti-Szene aufgekommen. In den vergangenen Jahren sei diese Form urbaner Kunst trotz - oder besser gesagt, gerade wegen - dieser Fesseln stärker geworden, sagt Zero, Gründer der Künstlertruppe RSCLS. »Graffitikunst gedeiht in der Unnachgiebigkeit.« Mitte des vergangenen Jahrzehnts formte sich so etwas wie ein Kompromiss zwischen Staatsmacht und Graffitikünstlern. Regierungsstellen wie der Nationale Jugendrat und die Singapurer Landbehörde entschlossen sich, den Künstlern kleine Bereiche in der Stadt zur Verfügung zu stellen, um legal zu malen. »Die Idee dahinter war, sie auf eine rechtmäßige Plattform zu lenken«, sagt der Künstler Zaki Abdul Razak, Dozent für Visuelle Studien an der Lasalle-Kunstakademie. Dennoch ist das wie ein Waffenstillstand mit ungutem Gefühl. Die Graffitikünstler sehen darin eher einen Pyrrhussieg. Der Straßenkunst Raum zu geben, brachte die Zunft vom Rand der Gesellschaft dem Mainstream näher, es bedeutete aber auch, dass die Behörden sie mit Leichtigkeit überwachen können.

Die Flächen sind knapp bemessen. Die Wand im Somerset Skate Park zum Beispiel misst 15 mal 2 Meter, rund 50 Künstler müssen sie sich teilen. Nicht von ungefähr müssen die Darstellungen vorher genehmigt werden. So stehen Straßenkünstler vor der Option, staatlich genehmigte Kunst zu schaffen oder aber Auftragsarbeiten auf Privatgelände. Razak vergleicht die Künstler mit Vögeln, die in einem goldenen Käfig zwitschern. dpa/nd