nd-aktuell.de / 13.01.2018 / Kommentare / Seite 4

Abrutschen trotz Hochkonjunktur

Roland Bunzenthal fehlt die Gerechtigkeit im reichen Deutschland

Roland Bunzenthal fehlt die Gerechtigkeit im reichen Deutschland

»Geben ist seliger denn nehmen.« Diese biblische Aufforderung an die Politik passt derzeit weder zu den Sondierungsgespräche der Großen Koalition noch in die Tarifverhandlungen der Metaller. In beiden Runden geht es auch darum, dass die Segnungen der Hochkonjunktur mit sprudelnden Unternehmensgewinnen und Staatseinnahmen auch sozial Benachteiligten zugute kommen. Vor allem die armutsgefährdeten Teile der Gesellschaft haben ein Recht darauf, nicht ganz in die Ecke gedrängt zu werden. Die Frage ist, ob das mühsam zusammengezimmerte Bündnis von Union und SPD diesem Anspruch genügen kann.

Material sowohl für die Groko-Verhandlungen als auch für die inzwischen 3. Runde der Metaller-Gespräche lieferte die donnerstägliche große Show der großen Zahlen mit einem neunköpfigen Bundes-Statistiker-Team aus Wiesbaden.

Nach den BIP-Zahlen war das vergangene Jahr sehr erfolgreich. Nicht nur wuchs die Wirtschaftsleistung um stolze 2,2 Prozent. Der Zuwachs des Volkseinkommens wurde auch relativ gleich zwischen Lohnabhängigen und den Kapital- und Vermögensabhängigen aufgeteilt. Die Lohnquote blieb stabil bei 68,5 Prozent des Volkseinkommens.

Das bedeutet aber nicht, dass die deutsche Gesellschaft egalitärer geworden wäre. Die Bevölkerungsgruppe am unteren Ende der Einkommenspyramide rutscht zunehmend in die Armut. Die Sechs-Prozent-Forderung der IG Metall enthält neben Produktivitätszuwachs und erwarteter Preissteigerung auch einen Umverteilungsfaktor. Bei einem realistischen Tarifabschluss von 3,5 bis vier Prozent geht dieser Umverteilungseffekt aber wieder verloren. Das Problem der Tarifpolitik ist die weit auseinanderklaffende Spanne der Tariflöhne von neun Euro Stundenlohn einer Friseurin bis zu 17 Euro im Metallbereich. Das bedeutet, dass zunehmend - trotz heiß laufender Konjunktur - viele Arbeitnehmer in die Nähe der Armutsgrenze rutschen.

Für einen Durchschnitts-Vollzeitarbeitnehmer stieg der Lohn 2017 im Schnitt um 2,5 Prozent, berichten die Wiesbadener. Die staatlichen Abzüge kletterten dagegen um 4,9 Prozent. Dadurch bleiben im Schnitt 1892 Euro Netto. Das Problem ist, dass viele Arbeitnehmer und besonders Arbeitnehmerinnen keine Vollzeitstelle haben. So arbeitet jede dritte Beschäftigte inzwischen in Teilzeit.

Hinter den Erfolgszahlen zu Wachstum, Staatsüberschuss und Beschäftigung verbergen sich viele Menschen, die aus der Mittelschicht in die Nähe des Existenzminimums abrutschten. Rein rechnerisch sind 12,9 Millionen Menschen hierzulande arm. Die Quote schwankt seit Jahren leicht, 2005 betrug sie allerdings noch 14,7 Prozent - und damit einen Punkt weniger als heute.

»Die wirtschaftliche Entwicklung schlägt sich schon lange nicht mehr in einem Sinken der Armut nieder«, sagt Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Ein Bericht seines Hauses nutzt den Begriff der relativen Einkommensarmut, den auch offizielle Statistiken verwenden. Demnach sind Menschen arm, wenn sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Zugrunde liegt dabei »das gesamte Nettoeinkommen des Haushaltes, inklusive Wohngeld, Kindergeld, Kinderzuschlag, anderen Transferleistungen oder sonstige Zuwendungen«. In Deutschland gilt demnach als arm, wer als Single weniger als 917 Euro netto verdient.

Bei Rentnern hat sich die Armutsquote besonders drastisch entwickelt: 2014 lag sie mit 15,6 Prozent oder 3,4 Millionen erstmals über dem Durchschnitt - jetzt sind es 15,9 Prozent. Die Autoren der Studie des Verbandes haben berechnet, dass die Zahl der Rentner unterhalb der Armutsschwelle seit 2005 um 49 Prozent zugenommen hat.

Sozialverbände kritisieren auch die Armutsquote bei Kindern, die mit rund 19 Prozent weiterhin deutlich über dem Durchschnitt der Bevölkerung liege. Erklärt wird das mit dem Wandel der Familienstrukturen: Die Zahl der Alleinerziehenden, die ein Armutsrisiko von 44 Prozent hätten, habe in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen. Die Hälfte der armen Kinder lebt heute bei einem alleinerziehenden Elternteil. »Geben ist seliger denn nehmen.« Das wird wohl nicht das Motto der nächsten Jahre werden.