nd-aktuell.de / 24.01.2018 / Kultur / Seite 12

Dünne Ärmle, dicke Ärmle

Traditionsbäcker beklagen, dass die schwäbische Brezel dabei ist, ihre seit Jahrhunderten überlieferte Form zu verlieren

Peer Meinert, Stuttgart

Wenn Bäckermeister Thomas Frank Brezeln formt, macht er das derart fix, dass dem Zuschauer beinahe schwindelig wird. Er fasst die Teigrolle an beiden Enden, dann ein blitzschneller Schlenker, ein Dreher mit der Hand - ruckzuck liegt das Backwerk auf dem Blech. »Wie gemalt«, kommentiert der 68-Jährige. Die Brezel sei genau so, wie eine schwäbische Brezel zu sein habe, sagt er: Der Bauch muss dick und weich sein, die Ärmle - schwäbisch für Ärmchen - dünn und knusprig.

3500 bis 4000 Laugenbrezeln schlingt und backt die Bäckerei Frank im Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt jede Nacht. Die Brezeln sind Kult, schon vor 7 Uhr in der Früh drängeln sich Kunden. »Wir setzen natürlich keine Brezel-Roboter ein«, sagt Frank. Während er das Wort »Brezel-Roboter« ausspricht, verzieht sich sein Mund, als sei etwas Saures hineingeraten. Frank weiß: Viele Betriebe sind in den vergangenen Jahren auf automatische Schlingmaschinen und Tiefkühlteig umgestiegen, der von Großbäckereien geliefert wird. Die Folge sei, dass der Teig viel dicker und fester werde, »weil sonst die Teigstücke in der Maschine reißen würden«. Frank nennt das »maschinentauglichen Teig« - und das ist wieder ein Wort, bei dem er den Mund verzieht. Die Folge: »Die Brezelärmle werden nicht mehr so schön dünn und resch« (knusprig). In der Tat: Schleichend und von vielen Kunden unbemerkt ist das schwäbische Backwerk dabei, seine Form zu verlieren. Mitunter sind die Ärmchen kaum dünner als der Brezelbauch fast wie bei der bayerischen Brez’n.

Andreas Kofler ist Geschäftsführer beim Landesverband für das württembergische Bäckerhandwerk und damit sozusagen höchste Autorität. Auch er sieht den Wandel. »Die maschinell hergestellte Brezel ist nicht ganz so dünn, weil sonst die Gefahr besteht, dass die Arme reißen.« Traditionell gehörten dicke Arme zur bayerischen Brez’n, seien aber gleichsam »unschwäbisch«, meint Kofler.

Doch einen Streit nach dem Muster »dünne versus dicke Ärmle« will der Verbandsmensch Kofler tunlichst vermeiden. Diplomatisch fügt er hinzu, eine »offizielle Norm« für den Laugen-Snack gebe es nicht, da habe jeder Bäcker sein eigenes Rezept. Doch ganz nebenbei gesteht Kofler auch, dass er persönlich dünne Ärmle vorziehe.

Etwas anders sieht man das allerdings etwa bei der Großbäckerei Sehne in Ehningen westlich von Stuttgart. Rund 40 000 tiefgefrorene Brezel-Rohlinge gehen hier jeden Tag fix und fertig an mehrere Dutzend Filialen sowie an andere Großkunden. »Die Bäcker vor Ort brauchen dann nur noch Salz drüber streuen und backen«, sagt Ingrid Stein, Beauftragte für Qualitätssicherung bei Sehne. Bis vor zwei Jahren habe man noch mit der Hand geschlungen, doch dass die Ärmchen bei Sehne dicker sind, habe nichts mit dem Maschineneinsatz zu tun. »Bei uns war das immer schon so«, sagt Stein, »unsere Kunden lieben es, wie wir es machen.« Sie betont: »Wir könnten auch maschinell dünner.«

In der Backstube Frank ist es unterdessen warm geworden. Seit 50 Jahren, erzählt der Meister, schlinge er jetzt Nacht für Nacht das Laugenbackwerk, in der dritten Generation führe er den Betrieb. Neben ihm steht Freddy Gerdes, auch er hantiert mit Geschwindigkeit. Der 51-Jährige stammt aus Ostfriesland. Dort habe er zwar eine Bäckerlehre gemacht, doch die Kunst des händischen Schlingens habe er erst im Schwabenland gelernt.

Mittlerweile ist der Friese selbst zum Experten geworden: Er sagt, heute könne er sogar erkennen, ob ein Rechtshänder oder ein Linkshänder Hand an das Laugenbackwerk gelegt habe. Man sehe das am Knoten der Ärmchen, »je nachdem, ob sich der Knoten etwas weiter nach links oder etwas weiter nach rechts verschoben hat«. dpa/nd