nd-aktuell.de / 25.01.2018 / Politik / Seite 5

Doppeltes Kassensystem

Bei den Koalitionsverhandlungen streiten Union und SPD auch über die private Krankenversicherung und die Bürgerversicherung

Silvia Ottow

Deutschland schneidet bei der Effektivität seines Gesundheitssystems im internationalen Vergleich schlecht ab. Experten zufolge liegt das am parallelen Bestehen zweier Systeme. Das sucht europaweit seinesgleichen. Als umlagefinanziertes System versicherte die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) im Jahr 2017 mit 72,26 Millionen Menschen den größten Teil der Bevölkerung, 8,77 Millionen waren Mitglied in den Kassen der kapitalgedeckten Privaten Krankenversicherung (PKV).

Letztere preist sich in einer bundesweiten Plakataktion als Garant für eine leistungsstarke Gesundheitsversorgung, obgleich die PKV tief in finanziellen Nöten steckt. Dazu dürften auch teure, aber überflüssige Therapien beitragen. Bereits vor Jahren wurden die Kassen der PKV von der Politik gezwungen, einen Niedrigtarif anzubieten, um Versicherte nicht in die Armut zu treiben, wenn sie nicht mehr jung und gesund sind.

Die Zeitung »Die Zeit« berichtete von einem Vater zweier Kinder, der als Privatversicherter eine Prämie von über 1100 Euro monatlich berappen muss. Kein Einzelbeispiel, doch ein Wechsel in einen anderen Tarif oder gar in die GKV, deren große Kassen derzeit sogar Überschüsse erwirtschaften, ist aufgrund der Gesetze und der finanziellen Rückstellungen unmöglich, die von Privatversicherern erwirtschaftet werden müssen und nicht in andere Kassen übertragbar sind.

Am meisten in der Kritik stehen allerdings die Honorare, die Ärzte für die Behandlung eines Privatversicherten erheben. Sie betragen das Doppelte oder Dreifache dessen, was beim gesetzlich Versicherten abgerechnet werden darf. Kein Wunder, wenn Fachärzte in Gegenden mit wenig Privatversicherten rar sind. Kein Wunder, wenn es Wartezeiten gibt. Kein Wunder, wenn Ärzteverbände diese Privilegien schützen möchten. Wer die Bürgerversicherung wolle, starte den Turbolader in die Zwei­Klassen-Medizin, behauptet Bundesärztekammer-Chef Frank Ulrich Montgomery. Nach den Sondierungsgesprächen begrüßte er ausdrücklich, dass Union und SPD auf »ideologisch motivierte Experimente« verzichten wollen.

Ein Experiment indes dürfte die Bürgerversicherung nicht mehr sein, nachdem Gesundheitsökonomen mehrfach durchgerechnet haben, was von den vermutlich nach wie vor privat versicherten Sozialdemokraten Karl Lauterbach und Bert Rürup in ein Konzept gegossen worden war. In ihrer reinsten Form wie sie beispielsweise die LINKE will, gäbe es keine Beitragsbemessungsgrenze mehr: auch der Millionär wäre mit hohen Beiträgen dabei und solidarisch mit jenen, denen er seinen Reichtum verdankt. Alle Einkünfte würden herangezogen. Die Honorare wären überall gleich, die Finanzierung paritätisch zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Auch der Wettbewerb käme nicht zu kurz, denn was von Gegnern der Bürgerversicherung absichtlich als Einheitskasse verunglimpft wird, bestünde aus einem GKV-ähnlichen System verschiedener Kassen mit unterschiedlichen Leistungen. Und das alles bei deutlich höheren Einnahmen. Hätte, wäre, könnte ...

So sehr sich die Konzepte von Grünen, LINKEN und Sozialdemokraten in Facetten unterscheiden, gemeinsam ist ihnen eine tiefgreifende Umgestaltung des gesamten Systems. Entweder alles auf einen Streich. Oder wie es Hilde Mattheis von den SPD-­Linken fordert, schrittweise: »Kann und will die SPD nach der Bundestagswahl 2017 in eine Regierungskoalition, muss der Weg in eine Bürgerversicherung vertraglich vereinbart sein«, sagte sie der »Berliner Zeitung«.

Möglicherweise ist die ins Gespräch gebrachte Angleichung der Ärztehonorare ein erster Schritt in die Mattheis'sche Richtung. Allerdings befürchtet der Verband der Ersatzkassen, dies könnte auf eine Erhöhung der Honorare in der GKV hinauslaufen. Falls es in Koalitionsverhandlungen tatsächlich zum Gespräch über eine wie auch immer geartete Bürgerversicherung kommt, lauern zahlreiche Fallstricke. Doch die Wahrscheinlichkeit ist nicht hoch. Die Versicherungswirtschaft hat sich schon in Stellung gebracht, den Verlust von bis zu 300.000 Arbeitsplätzen prophezeit und einen Warnbrief an den SPD-Chef geschickt. Doch das ist nicht ihr einziger Joker im Spiel, denn zahlreiche Lobbyisten in den Unionsparteien und im Bundestag arbeiten gegen eine solidarische Krankenversicherung und haben es dabei bis in höchste Ämter gebracht. Über Twitter offenbarte ein Parlamentarier dieser Tage, beim Einzug in den Bundestag als erstes gefragt worden zu sein, ob er nicht in die private Krankenversicherung gehen wolle.