nd-aktuell.de / 27.01.2018 / Kultur / Seite 9

Hier könnte ein Gedicht stehen

Jürgen Amendt über die Entfernung von Lyrik wegen Sexismus und die Selbstermächtigung der politischen Egomanen

Wir müssen an dieser Stelle noch einmal auf die Causa Gomringer respektive auf den Vorfall an der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) in Berlin zurückkommen. Dort wurde, wie in den vergangenen Tagen berichtet, vom Akademischen Senat der Hochschule entschieden, ein Gedicht des Lyrikers Eugen Gomringer überpinseln zu lassen und durch ein anderes Poem zu ersetzen.

Diese Entscheidung hat eine Vorgeschichte: Studentinnen haben sich den Verlautbarungen der Hochschule zufolge durch das Gedicht unangenehm an sexuelle Belästigung erinnert gefühlt; zudem stünden die Verszeilen in einer patriarchalen Kunsttradition, in der Frauen männlichen Künstlern als schöne Musen dienten. So jedenfalls begründete der AStA der ASH seinen Antrag auf Entfernung des Gedichts.

Verschiedentlich war in den vergangenen Tagen davon die Rede, der Beschluss der Berliner Hochschule sei ein Akt der Zensur und ein Eingriff in die Kunstfreiheit. Dem muss entgegnet werden: Dies Vorwürfe sind zumindest überzogen. Selbstverständlich kann eine Hochschule wie jede andere Institution (und jede Privatperson) frei darüber bestimmen, welches Gedicht sie an ihre Wände pinseln lässt. Das Gedicht verschwindet mit der Überpinselung nicht aus dem öffentlichen Bewusstsein; es kann weiterhin verbreitet und gelesen werden. Auch kann der Dichter weiterhin ungestört arbeiten.

Was stimmt, ist allerdings dies: Hinter der Entscheidung des Akademischen Senats der Alice-Salomon-Hochschule steht eine bestimmte Haltung, die einer narzisstischen Kränkung entspringt. Die, die von dieser Kränkung befallen sind, kennen keine Duldung (also keine Toleranz) anderer Sichtweisen und werten alles, von dem sie eine andere Meinung haben, als persönlichen Angriff, auf den sie mit Abwertung und der Forderung reagieren, das, was sie störe, möge bitteschön entfernt werden. Dieser Selbstermächtigung der politischen Egomanen hat die Hochschulleitung nachgegeben. Das ist das wirklich Bedenkliche an diesem Vorgang. jam