nd-aktuell.de / 01.02.2018 / Kommentare / Seite 4

Mehr Zeit durch weniger Maloche

Die IG Metall tritt für eine Verkürzung der Arbeitszeit ein. Ursula Stöger erklärt, warum das Vorhaben richtig ist

Ursula Stöger

Vor 500 Jahren entwickelte Thomas Morus seine Vorstellung einer idealen Gesellschaft. Die Bewohner*innen »Utopias« arbeiten jeden Tag nur sechs Stunden. Wir sind dieser Utopie mit der Durchsetzung der 35-Stunden-Woche in der Metall- und Druckindustrie Mitte der 1980er Jahre ein gutes Stück nähergekommen. Danach wurde es allerdings still um die gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik. Die errungenen Erfolge wurden durch Arbeitszeitflexibilisierungen und aufgrund von (unbezahlten) Überstunden, durch Vertrauensarbeitszeit und Arbeitszeitkonten zunichtegemacht. 2015 arbeiteten Vollzeitbeschäftigte durchschnittlich 43,5 Stunden pro Woche.

Aus diesem Grund kann der Vorstoß der IG Metall in der diesjährigen Tarifrunde nicht hoch genug geschätzt werden. Die individuelle Möglichkeit einer vorübergehenden Verkürzung der Arbeitszeit auf 28 Stunden mit einem teilweisen finanziellen Ausgleich bei belastenden Arbeitszeiten oder für die Betreuung von Kindern bzw. Angehörigen ist eine mutige Forderung, die einen Kurswechsel in der Tarifpolitik einläuten könnte. Es zeigt sich leider schon jetzt: Ihre Durchsetzung wird schwierig werden. Die Arbeitgeber stören sich am finanziellen Ausgleich.

Einen Haken hat die Tarifforderung der IG Metall dennoch: Sie bleibt einem Grundprinzip des traditionellen westdeutschen Produktionsmodels verhaftet. Der »Taylorismus« war lange Jahre das Leitbild für die gesellschaftliche Organisation der Produktion und des Zusammenlebens. Er zeichnet sich durch Massenproduktion, das Normalarbeitsverhältnis, ein darauf aufbauendes Sozialversicherungssystem und durch die sogenannte Versorgerehe aus, nach der Männer Vollzeit arbeiten und Frauen für Hausarbeit und Kinderbetreuung zuständig sind und dabei allenfalls einer Teilzeitarbeit nachgehen. Eine Folge ist die ökonomische Abhängigkeit vieler Frauen.

Sollte die IG Metall die individuelle Wahlmöglichkeit einer 28-Stunden-Woche durchsetzen, ist dies sicherlich ein Beitrag zur Verbesserung der Work-Life-Balance. Allerdings werden nach wie vor vorwiegend Frauen diese Möglichkeit nutzen und die Betreuung der Kinder bzw. der Angehörigen weitgehend alleine übernehmen. Für die meisten Väter fehlt der finanzielle Anreiz, ihre Arbeitszeit für Betreuungsaufgaben zu kürzen.

Der Taylorismus hat seinen Leitbildcharakter längst verloren und auch die weiblichen Lebensläufe entsprechen heute nicht mehr dem Ideal der Versorgerehe. Überdies gerät auch das Sozialversicherungssystem an Grenzen, weil klassische Erwerbsbiografien im Normalarbeitsverhältnis nicht mehr die Normalität sind. Es lohnt sich also, über ein neues gesellschaftliches Produktionsmodell nachzudenken, dessen Grundlage eine radikale und kollektive Arbeitszeitverkürzung sein könnte. Volkswirte haben errechnet, dass eine 30-Stunden-Woche für alle möglich wäre und mindestens drei gute Gründe sprechen auch dafür.

Erstens: Das traditionelle Geschlechterarrangement weist eine erschreckende Beharrlichkeit auf, und das, obwohl zwischenzeitlich immer mehr Männer Betreuungsaufgaben übernehmen möchten. Eine 30-Stunden-Woche für alle als neues gesellschaftliches Leitbild könnte den gesellschaftlichen Wandel beschleunigen.

Zweitens: Die Menschen wollen ungefähr 30 Stunden arbeiten. Dies zeigen Umfragen. Viele Teilzeitbeschäftigte, darunter fast nur Frauen, wollen länger arbeiten und Vollzeitbeschäftigte mit überlangen Arbeitszeiten, also mehrheitlich Männer, wünschen sich kürzere Arbeitszeiten. Dies gleicht sich ganz gut aus.

Und drittens: Ein neues Produktionsmodell auf Basis einer 30-Stunden-Woche könnte zur Lösung vieler gesellschaftlicher Probleme beitragen. So wäre ein nachhaltiger Umgang mit der Arbeitskraft und ein besserer Schutz der Gesundheit möglich; alle hätten mehr Zeit für soziale und kulturelle Aktivitäten; Arbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit würden zurückgehen und schließlich könnte dies eine demokratische Partizipation bislang hiervon ausgeschlossener Menschen fördern. Wichtig ist bei alledem allerdings Folgendes: Eine kollektive Arbeitszeitverkürzung kann ihre Wirkung nur bei einem vollen oder gestaffelten Einkommensausgleich entfalten. Auch wenn eine 30-Stunden-Woche für alle heute noch Utopie ist; es gibt viele gute Gründe, wieder für Arbeitszeitverkürzung zu streiken.