nd-aktuell.de / 03.02.2018 / Kultur / Seite 10

Fahrt ins Finstere

Vor 100 Jahren wurde die Schauspielerin, Regisseurin und Produzentin Ida Lupino geboren

Stefan Ripplinger

In der finstersten Zeit des vergangenen Jahrhunderts, in den vierziger Jahren, verlangte es die Franzosen und die US-Amerikaner nach finsteren Filmen. Zu den wichtigsten Repräsentanten des im harmoniesüchtigen Deutschland unbekannten »Film noir« gehört, als Schauspielerin wie als Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin, Ida Lupino.

Lupino, die aus einer sehr alten britischen Schauspielerfamilie stammte, hatte bereits in zwei Dutzend Filmen, vor allem B-Pictures, gespielt, als ihr Name 1941 noch vor dem von Humphrey Bogart auf den Plakaten erschien. Gerade erst 23, war sie der Star der »Entscheidung in der Sierra« von Raoul Walsh. Der zugleich zynische und verklärte Schluss - der Kriminelle, der aus seiner Klasse und seiner Situation nicht hat ausbrechen können, wird erst vom Tod befreit - zeigt Lupino als treue Gangsterbraut in einem ihrer unvergesslichen Momente. Den umflorten Blick in den Himmel gerichtet, will sie sich selbst von dieser bittersüßen Illusion überzeugen: »Frei«. Die Ähnlichkeit mit dem Schluss eines der besten »Films noirs«, Fritz Langs »Gehetzt« (USA 1937), ist auffällig. Im Rest von »Sierra« allerdings werden Bogart und Lupino von einem Hündchen namens Zero an die Wand gespielt.

Viel stärker erscheint sie in dem »Geheimnis der drei Schwestern«, ebenfalls 1941, von Charles Vidor. Der Film ist, was Szenenbild, Schauspieler oder Schauspielerführung betrifft, reines Theater, nur eine ist nicht Theater: Lupino. Lupino agiert höchst kontrolliert und zurückgenommen, eben wie eine Kinoschauspielerin; erst am Ende erlaubt sie sich, von der Schauergeschichte gedeckt, einige Ausbrüche. Der Kontrast zwischen Theater und Kino gibt diesem Film seinen ganz besonderen Reiz.

Das Besondere am Rollenmuster der Lupino ist, dass sie noch in der schwärzesten Chicagoer Nacht weder abgebrüht wirkt wie Bette Davis, Rita Hayworth oder Barbara Stanwyck noch dümmlich wie so viele blonde Nebendarstellerinnen, sondern ebenso klug wie zerbrechlich. Zwar steht sie auf der Seite des Verbrechens, aber deutet stets an, wie sie dahin gekommen ist. Sie ist eine Verbrecherin wider Willen und insofern der lebendige Widerspruch zur Lehre vom angeborenen Bösen.

Mit dem Studiosystem hat sich die Lupino, die gern mit als »Kommunisten« verfolgten Kollegen zusammengearbeitet hat - ihr dritter Mann, Howard Duff, stand auf der Schwarzen Liste -, mehrfach angelegt, etwa als sie es 1942 ablehnte, an der Seite des Denunzianten Ronald Reagan zu spielen, und deshalb vorübergehend gesperrt wurde. Es war zwar konsequent und doch seinerzeit höchst ungewöhnlich, dass sie schließlich eine eigene Produktionsgesellschaft gründete und Regie führte.

Ihre erste Regiearbeit ist 1948 »Verführt«. Die verzweifelte Lage lediger Mütter aus der Arbeiterklasse gibt den Hintergrund zu diesem in alptraumhaften Bildern dahinfließenden Psychodrama. Sally Forrest ist großartig in der Hauptrolle und bleibt im Team. Als nämlich »Verführt« ein Überraschungserfolg wird, wagt sich Lupino an weitere Tabuthemen. So dreht sie 1950 mit »Outrage« (etwa: Gräuel) einen der ersten Spielfilme über eine Vergewaltigung und ihre bitteren Folgen.

An der ersten halben Stunde von »Outrage« ist vieles zu bewundern, nicht nur, wie schon in »Verführt«, die psychologischen Verdichtungen oder das an Lang erinnernde expressionistische Licht-und-Schatten-Spiel. Lupino ist nicht auf Stimmung aus, sie will wehtun. Als die junge Frau (Mala Powers) vor ihrem Vergewaltiger flieht, betätigt sie die Hupe eines Lastwagens, um Hilfe herbeizuholen. Das enervierende Hupen wird in einem Orgelpunkt von der Filmmusik (Paul Sawtell) aufgenommen, während die Kamera in die Höhe fliegt. Ein Nachbar, den die Hupe aufgeschreckt hat, schaut aus dem Fenster und schließt es. Die von dem schmerzenden Akkord begleitete Abwendung schneidet tiefer ins Fleisch, als alle Überdeutlichkeit es könnte.

Ohne dass die Lupino je das Gespür für ihre Protagonistin verlöre, ertränkt sie deren Verstörtheit am Ende doch in Verständnis und Liebe ihrer Umgebung. Im Vorgängerfilm, »Lügende Lippen« (ebenfalls 1950), hat Lupino es umgekehrt gehalten, mit Verständnis und Liebe begonnen und gezeigt, wie wenig wert diese sind, wenn eine Frau (wiederum Sally Forrest) nicht mehr ins »glückliche Heim« passt; es geht um einen Fall von Kinderlähmung.

Aber in keiner ihrer Gesellschaftsstudien verfährt Lupino so kompromisslos wie in »Der Mann mit den zwei Frauen« von 1953. Der von Edmond O’Brien gespielte Bigamist ist fast ein Dostojewski’scher Idiot. Der erfolgreiche Vertreter für Gefriertechnik, dessen Ehe zu einer »Geschäftsverbindung« geworden ist, hat die irre Idee, sich selbst und die Verhältnisse aufzutauen, und damit stürzt er alle ins Unglück. Die kapitalistische Gesellschaft funktioniert nur bei Temperaturen unter null.

Mit einem minimalen Budget entsteht im selben Jahr der »Hitch-Hiker« (Anhalter). Er wird gewöhnlich als »Film noir« geführt, ist aber ein moderner Western und ein makelloser obendrein. In ebenso stilisierten wie schroffen Bildern zeigt er die aller Despotie innewohnende Schwäche: Der Despot (William Talman) kann aus Angst vor der Gegenwehr der von ihm Drangsalierten und Bedrohten buchstäblich kein Auge mehr zumachen.

Dieser und andere ihrer Filme finden zu ihrer Zeit kaum Beachtung, Lupinos Produktionsgesellschaft geht pleite. Wie so viele talentierte Regisseure wird auch sie in die Serienfertigung des Fernsehens abgeschoben. In Sam Peckinpahs »Junior Bonner« (1972) steht sie, ihre letzte große Rolle, zwischen ihrem Mann, der sich gemeinsam mit ihrem älteren Sohn (Steve McQueen) auf Rodeos lächerlich macht, und dem jüngeren Sohn, der »an seiner ersten Million arbeitet«. Sie ist lebensklug genug, ihrem Mann nicht zu folgen, aber dass sie einzig ihn und die Verlierer lieben kann, ist klar.

1995 verstirbt Ida Lupino, geschwächt von jahrzehntelangem Alkoholmissbrauch. Ihre eigenen Produktionen sind Entdeckungen. Wer sie noch nicht kennt, hat einen guten Grund weiterzuleben.

Unglücklicherweise hat sich aus Anlass des 100. Geburtstags der Lupino am 4. Februar die Kultur- und Medienwissenschaft ihrer angenommen. Das ist eine akademische Disziplin, die ihren ganzen Ehrgeiz daran setzt, so lange über die Kulturgeschichte und die tiefere Bedeutung beispielsweise der Nudel zu philosophieren, bis auch dem Letzten der Appetit auf beispielsweise Nudeln vergangen ist.

Angeführt von der bekannten Professorin Bronfen (»Besessen. Meine Kochmemoiren«), erproben in einem gerade erschienenen Band elf Akademiker ihr Begriffsbesteck an der Schauspielerin und Regisseurin. Der immerhin mit einer Filmografie und einigen nützlichen Hinweisen versehene Band ist unverzichtbar für diejenigen, die demnächst eine Doktorarbeit zu diesem oder einem verwandten Thema zu schreiben haben, und für alle, die sich, weshalb auch immer, nach den Nudeln auch die Filme abgewöhnen wollen. Dabei helfen ihnen Sätze wie: »Nach ein paar falschen Klaviertönen erklingt eine dramatische, extradiegetische Musik«, »An den Filmen, die Ida Lupino während der Kriegsjahre drehte, wird aber noch eine weitere Akzentuierung ihrer Wandelbarkeit deutlich«, »Als kritische Stellvertreterin Hollywoods verdichtet sich an ihr zugleich eine doppelte Mahnung«, »Die Karriere von Ida Lupino fällt in eine Schlüsselepoche der Mediengeschichte« oder, mein Favorit: »Konträr zur lediglich rhetorischen Funktion des Fragments als modischer Marker blitzt dort eine ästhetische Modernität auf, die in der Heterogenität spatialer Relationen ihre Destination als autoreflexive Praxis findet.« Dass die ästhetische Moderne, ist sie nur erst senil geworden, auf Autoreflexion schalten wird, habe ich übrigens ebenso kommen sehen wie die Erfindung der intelligenten Nudelmaschine.

Den Herausgebern ist darin recht zu geben, dass die »Singularität« der Lupino eine bloß »putative«, also vermeintliche ist, aber nicht aus den Gründen, die im Band seitenlang erörtert werden, sondern aus einer schlichten filmhistorischen Tatsache heraus: Frauen waren im frühen Kino sehr häufig Regisseurinnen, Drehbuchautorinnen, Produzentinnen. Sie verloren diese Stellung erst, als Ende der zwanziger Jahre das Kino von der Manufaktur zur Industrie wurde. Kinohistoriker haben die Filme der Frauen auszulöschen oder herunterzuspielen versucht, aber vergebens. Heute ist allgemein bekannt, dass Frauen wie Lupino ihre Vorläuferinnen hatten. Die frohe Botschaft könnte dem kulturwissenschaftlichen Seminar überbracht werden, doch warne ich davor, das zu tun. Es kommt doch wieder nur ein Tagungsband dabei heraus.

Elisabeth Bronfen, Ivo Ritzer, Hannah Schoch (Hg.): Ida Lupino. Die zwei Seiten der Kamera. Bertz + Fischer, 230 S., geb., 25 €.