Im freien Fall zur Ruhe kommen

Hartmut Lange: »Über das Poetische« - Gedanken zur Vernunft, zur Güte und zu Illusionen

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Es gibt Orte, an denen das Erschreckendste waltet: die Wahrheit. Solch ein Ort ist - der Flohmarkt. Da liegen - gebündelt, in Kästen sortiert, in Alben gesammelt - uralte Fotografien aus, schwarz-weiß, oft schon vergilbt, vor sich hin bleichend. Ansichtskarten, darauf Menschen aus lang vergangener Zeit. Laufende, lachende, miteinander tätige Leute, die aber niemand, wirklich niemand mehr kennt, und von denen keine Auskunft mehr existiert - Wesen, die so tot und inzwischen so sehr das Nichts sind, dass die Fotos nur mühsam den Schein aufrechterhalten können, es hätte diese Menschen überhaupt je gegeben. Das ist sie, die erschreckende Wahrheit: Im Verschwinden vollendet sich das Los jeder Existenz. Aber mitten im Leben tun wir so, als bauten wir an etwas Gültigem, als schafften wir Spurensicheres. Dieser Glaube, der uns morgens aus dem Bett treibt - er ist das Werk des Bewusstseins, das gegen die Vergänglichkeit wühlt und wirkt. Das Bewusstsein will nicht zulassen, dass ständig Verfall gedacht wird. Es ist das Organ unserer Spannkraft, ohne die ein Leben nicht möglich wäre.

Deutschlands bedeutendster Novellist Hartmut Lange hat in beeindruckender Konsequenz Bücher über das täuschende, fliehende Bewusstsein geschrieben. Novellen über den Menschen, der eingeklemmt existiert - zwischen schönster, stolzer, staunenmachender Absolutheit (jeden Einzelnen gibt es nur einmal!) und doch beschlossener, schlimmster, irgendwann vollzogener Eingemeindung ins Massentotenreich.

Immer war Lange auch essayistischer oder aphoristischer Beobachter seiner selbst. Nun zieht er im Buch »Über das Poetische« eine Bilanz seines grandios skeptischen Denkens - in der Buchreihe »Fröhliche Wissenschaft« des Verlages Matthes & Seitz. Mit den Jahren ist sie ein Fundus des Fragenden, der Thesen-Wollust, der wahrlich zwanglosen, also herausfordernd-anstrengenden Intelligenz geworden. Die Autorenschaft reicht von Agamben bis Schacht, von Badiou bis Baudrillard, von Földényi bis Hegewald - weit über hundert Bände Geist-Reichtum. Hartmut Langes Texte darf man getrost als intellektuelle Kostbarkeit bezeichnen.

Demjenigen, der mit Gewissheiten nur so um sich wirft, tritt dieser Schriftsteller mit der einzig relevanten Frage entgegen: wie man hochfahrende geschichtliche Projektionen glaubhaft mit dem Fakt verbinden kann, dass kein Mensch »Gründe für seine eigene Existenz geltend machen kann«. In so vielen Köpfen ein ständiges Umwälzen von Plänen, der Welt eine bleibend vernünftige Richtung zu geben und just dafür zu leben und sogar zu kämpfen, also: sich Theorien anzuschließen, Parteien, Zirkeln, Religionen - in jedem Herz aber spürst du irgendwann ein Ziehen, und in den Arterien sammelt sich Kalk. Hartmut Lange lässt Kleist sprechen: »Wir begegnen uns, drei Frühlinge lieben wir uns ... und eine Ewigkeit fliehen wir wieder auseinander.« Dasein: der grundlose Sachverhalt, der irgendwann alles Streben in Zweifel zieht und den Menschen vernichten kann, ehe das körperliche Sterben beginnt. Wie dem Problem beikommen? Mit Poesie. Poesie »berührt Welt, um eine neue zu schaffen«. Können wir die Welt schon nicht begreifen, so können wir Welt - sie übersteigend - doch erleben.

Man sollte, so Hartmut Lange, in guter Sorge um die Gestaltung des eigenen Lebens sein, aber doch Abstand halten zu den Verlockungen eines Weltgeistes der Vernunft, wie er etwa Hegel vorschwebte. Ja, unsere Mittelmäßigkeit muss träumen, um sich selber zu ertragen, aber sie darf von der Welt nicht erwarten, dass sie Träume erfüllt. Wo wir auf »Erkenntnisseligkeit« setzen und die Dinge lediglich auf Begriffe bringen, »füttern wir nur unsere Arroganz«. Glück freilich ist möglich: indem man keine Angst vor jener Angst hat, die uns im freien Fall überkommt. Lange rät: »im freien Fall zur Ruhe kommen«, und sein dichterisches wie essayistisches Werk lächelt dazu. Verzweiflung und Trostbegehren als Liaison - so entsteht in allgemeiner Unterlegenheit des Menschen die Überlegenheit einer menschlichen Ethik. Dem Buch könnte ein Satz von E. M. Cioran vorangestellt sein: »Wir leben am Grund einer Hölle, von der aber jeder Augenblick ein großartiges Wunder ist.«

Lange schreibt über Nietzsche, Schopenhauer, Heidegger, Georg Lukács, er porträtiert den Philosophen Odo Marquard, bejaht dessen »Verteidigung des Zufälligen gegen den abstrahierenden Hochmut der (eingebildeten) Notwendigkeit«. Er schreibt berückend über die unsäglich kitschige Friederike Kempner: »Sie kennt den Drang zum Höheren, kennt aber die Wege nicht, und in eben dieser unerfüllten Spannung lauert ihre gelegentliche Genialität.« Kritisch denkt er über Bertolt Brechts »Wissenschaftsfrömmigkeit« nach. Aller »Transzendenzbezug« sei bei ihm, Marx folgend, gestrichen. »Er kannte keine Gefühlsäußerung aus dem Unbestimmten. Sein forciertes Sozialverständnis war bestenfalls ideologieromantisch.« Aus Brechts »Lob der Dialektik« zitiert der Autor den verführerisch klaren Satz: »Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein!« Das könne nur sagen, so Lange, wer im Individuum bloß »eine Summe sozialpolitischer Determinanten« sieht. Aber der Mensch brauche und schaffe sich, selbst wenn er noch so nüchtern und für Rezepte veranlagt sei, immer wieder Illusionen. Die nicht unbedingt in den Klassenkampf führen, so sehr der auch Änderung brächte.

In einem angefügten biografischen Gespräch mit Matthias Bormuth erzählt der einstige Babelsberger Filmstudent Lange, wie er in der jungen DDR »begeisterte Erfahrungen« eines parteilichen Denkens machte. Wie schmerzvoll dann sein Weg verlief, »von der Sinngebung der Welt zu lassen«. Er arbeitete als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin, war ein Freund von Peter Hacks. 1965 floh Lange in den Westen: Jene »stalinistische Bildungsrevolution«, die ihn gefördert hatte, verweigerte ehrliche Blicke auf die Verhältnisse. Was ihn bei Hacks und bei einigen Linken bis heute frösteln macht: »Man schwelgt in dem Vergnügen, alles begriffen zu haben. Es ist eine Position der ewigen Überlegenheit, der etwas Herzloses anhaftet.« Lange verweist auf die erkenntnistheoretische Gefahr der Sozialutopisten, das »absolute Gute« zu denken. Aus sozialem Frieden entstehe nicht unbedingt Güte, sie sei, unter welchen Verhältnissen auch immer, ohne Metaphysik nicht denkbar. Das Gute und Sittliche bleibe etwas, »an dem wir immer wieder konkret partizipieren können, das uns aber, wenn wir es unter dem Zugriff des Gedanklichen sichern wollen, zur Ideologie verkommt«. Von da an war es just in der stalinistischen Gesellschaft, die sich die bessere nannte, nicht weit zur »sehr einseitigen Form der Menschenfreundlichkeit: Der Klassenfeind darf liquidiert werden.«

Ein wahrhaftig ungefälliges, weil forderndes Buch liegt hier vor, das frühere Wesenssätze des Autors umkreist: »Ein Gemälde von Cranach, eine Skulptur von Michelangelo, die dem Menschen nachgebildet sind, haben alle bestialischen Eigenschaften verloren, die das Modell selbst offenbar nicht loswerden kann. So wurde die Humanisierung des Menschen nur verwirklicht in der Welt des schönen Scheins.« Und: »Wer sich widerspricht, kommt der Wahrheit näher.«

Hartmut Lange: Über das Poetische. Matthes & Seitz, 172 S., Klappenbroschur, 14 €.

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