nd-aktuell.de / 17.02.2018 / Sport / Seite 11

Ganz ohne gefrorene Grachten

Die Niederländer dominieren erneut den Eisschnelllauf - auch Claudia Pechstein hat dem nichts entgegenzusetzen

Oliver Kern, Gangneung

Das Wort »historisch« wird viel zu häufig benutzt. Kaum wird irgendein Rekord gebrochen, fällt es schon. Die Medaillenausbeute der niederländischen Eisschnellläufer bei den Olympischen Spielen 2014 konnte aber sehr wohl als historisch bezeichnet werden. Sie gewannen in Sotschi 23 Medaillen, zehn mehr als alle anderen Nationen zusammen. Sie holten acht von zwölf Titeln, eine erdrückende Dominanz. Vier Jahre später schicken sie sich an, die Bilanz noch mal zu steigern. Und so wird wieder klar, warum man besser nie von historischen Ereignissen sprechen sollte.

Von den ersten sechs Entscheidungen im Gangneung Oval gewannen die Holländer fünf. Das sechste Gold holte mit Ted-Jan Bloemen ein gebürtiger Niederländer, der einst vor der großen Konkurrenz daheim nach Kanada »flüchtete«. Und diesmal greifen die Oranjes sogar in Disziplinen an, in denen sie jahrelang hinterhergelaufen waren, so auch die 5000 Meter der Frauen, die am Freitag von Esmee Visser gewonnen wurden. »Ich bin total überrascht«, sagte die 22-Jährige. »Ich hatte mir für diesen Winter vorgenommen, meinen ersten Weltcup zu laufen. Zu Olympia wollte ich eigentlich erst 2022.«

Dann aber qualifizierte sich Visser bei den holländischen Trials und ist nun plötzlich Olympiasiegerin. In 6:50,23 Minuten unterbot sie ihre eigene Bestmarke um sechs Sekunden und setzte der Konkurrenz eine unschlagbare Marke vor die Nase. Auch die 45-jährige Claudia Pechstein, die seit einem Jahrzehnt nicht mehr so schnell war, übernahm sich beim Versuch, der Holländerin Paroli zu bieten. Nach 1000 Metern lag die Berlinerin zwar eine Sekunde vor Visser, doch dann brach sie ein und belegte in 7:05 Minuten nur Platz acht. »Ich weiß nicht, woran es gelegen hat. Es hieß: siegen oder sterben. Leider war ich heute eher sterbend unterwegs«, sagte eine gefasste Pechstein.

Warum die Niederländer so stark sind, darüber gab es in Pyeongchang schon eine Kontroverse. Die amerikanische Reporterin Katie Couric hatte dem US-Fernsehpublikum erklärt, es läge an den vielen Grachten, auf denen die Holländer im Winter täglich zur Arbeit laufen würden. »Wir hatten seit drei Wintern keine gefrorenen Grachten mehr«, amüsierte sich der niederländische Verbandssprecher John Van Vliet gegenüber »nd« über Courics stereotype Ansichten. Nach einem Shitstorm im Netz hatte sich Couric entschuldigen müssen.

Die wahren Gründe für die Dominanz der Niederlande liegen in der dortigen Popularität des Sports. Jahr für Jahr lockt er junge Talente in die vielen Eishallen. Und bei einem so großen Pool an Athleten finden sich leichter große Könner. »Wir pushen uns im Training auch täglich zu Höchstleistungen. Das macht uns alle noch besser«, sagte Annouk van der Weijden, die nur knapp Bronze verpasst hatte. »Es ist schon sehr schwer, sich überhaupt für Olympia zu qualifizieren. Aber so sind wir es alle gewohnt, Rennen auf allerhöchstem Niveau zu laufen.«

In Deutschland diskutieren etwa die Schwimmer vor jedem Saisonhöhepunkt, ob es ungünstig sei, schon bei den nationalen Meisterschaften einen Leistungsnachweis erbringen zu müssen, weil dies einen perfekten Formaufbau zu Olympia oder Weltmeisterschaften erschweren würde. »Wir zeigen ja, dass das geht«, entgegnete van der Weijden trocken. Im Nachbarland bilden sich überall Profiteams. »Da trainieren wir täglich mit den Besten auf dem Eis«, ergänzte Visser. Der Versuch, so etwas in Deutschland zu etablieren, ging schon einige Male schief. Es sind einfach zu wenige gute Läufer da, und es fehlt an zahlungskräftigen Sponsoren.

Claudia Pechstein wird von ihrem Lebenspartner unterstützt, so konnte wenigstens sie ein gutes Team aufbauen und im November noch mal 6:56 Minuten laufen. Das hätte in Korea nicht zur Medaille gereicht, die 6:53 von der WM 2017 in Gangneung wären aber Bronze wert gewesen. »Ich mache auf jeden Fall weiter«, sagte Pechstein nun trotzig. »Wenn ich gesund bleibe, habe ich 2022 die nächste Chance auf eine Medaille.« Dann wäre sie 49. Und wahrscheinlich käme wieder eine nicht mal halb so alte Niederländerin aus dem Nichts, die dann schneller ist als sie.