Stochern im Nebel der Zeit

Im Wettbewerb: Der Film »Dowlatow« ist ein Sittengemälde des Biedermeiers der Breschnew-Zeit

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Ist das Nebel, der über zwei Stunden lang über der Szenerie liegt, oder Mehltau? Jedenfalls scheinen die Bilder in Alexej German jrs. Film »Dowlatow« fahl, wie ausgeblichen. Wir sind in Leningrad 1971, seit sieben Jahren erholt sich das Land im Mittelmaß der Breschnew-Ära von all den Strapazen der »heroischen« Zeiten des Stalinismus und der anti-heroischen Entstalinisierung unter Chruschtschow. Jetzt herrschen erst einmal Ruhe und bescheidener Konsum im Lande, dessen Bewohner diese kleinbürgerliche Erholungspause offenbar nötig haben.

Man kann viel Nachteiliges über die Breschnew-Zeit sagen, keine Visionen, keine echten Reformen, ein bisschen Pragmatismus und nicht mehr ganz so mörderisch ernst gemeinte ideologische Rituale - Breschnew war ein Gremienmensch, keiner, von dem man Alleingänge befürchten musste. Das beruhigte die verunsicherte Funktionärsschicht und versetzte das Land in einen leichten Schlummer. Wie es ist, kann es zwar nicht mehr lange weitergehen - aber eine Weile vielleicht doch, lasst mich schlafen!

Das ist die Atmosphäre des Rückzugs ins Private. Die Verhältnisse werden wir nicht ändern, aber warum soll ich mir inzwischen keine Datsche bauen oder einen Westwagen besorgen - das sind die neuen Herausforderungen eher ziviler, ja privater Art. Was in dieser traumfreien Zone stört, sind jene, die das faule Opportunistenspiel nicht mitmachen, weil sie ein Sendungsbewusstsein in sich spüren, weil sie jung oder - schlimmer noch - Künstler sind, die finden, etwas sei faul im Staate Sowjetunion.

Es geht also um jene besondere Atmosphäre, in der wir 1971 auf den Dichter Sergej Dowlatow in Leningrad treffen. Ein junger Mensch, ebenso witzig wie geistvoll, gelangweilt vom geforderten Mittelmaß und der allgegenwärtigen Korruption. Die Prosa, die er schreibt, ist den Literaturzeitschriften des Landes »zu negativ«, außerdem ist er nicht in den Schriftstellerverband aufgenommen worden. Regelmäßig werden seine Texte abgelehnt. Die Stapel mit den sich in der Redaktion türmenden, weil nicht verwendbaren Manuskripten werden von Altstoffe sammelnden Pionieren abgeholt, aber weil auch sie nicht recht bei der Sache sind, fliegen die Blätter dann im Freien herum, landen in Pfützen und erobern so, indem sie sich in Feuchtigkeit auflösen, für einen kurzen Moment doch die Straße.

Es ist dieser besondere Blick, der nichts entlarven will, sondern eine ebenso traurige wie komische Geschichte erzählt: die vom Dichter Dowlatow, der zur einen Hälfte Armenier und zur anderen Jude ist - bei solchen Subversion versprechenden Mischungen werden die berufsmäßigen russischen Ideologiewächter ganz besonders misstrauisch. Geboren 1941 in Ufa, studiert er in Leningrad Philologie und wird nach zwei Jahren exmatrikuliert. In der Roten Armee dienend, gehört er zur Wachmannschaft eines Gefängnislagers der Republik Komi - die Gefangenen und ihre Bewacher fühlen sich hier gemeinsam von der Welt vergessen. Schließlich arbeitet er als Journalist bei einer Talliner Zeitung namens »Sowjetisches Estland« - im Film wird daraus die Betriebszeitung einer Werft. Der heimliche Konsens ist: Niemanden interessiert, was hier fabriziert wird, die Blattmacher nicht und die Leser auch nicht. Hauptsache, wir haben unsere Ruhe, eine Weile noch.

Jemand wie Dowlatow stört den faulen Frieden. Es scheint mir keineswegs so, wie die meisten Kritiker über diesen einzigen russischen Wettbewerbsbeitrag auf der Berlinale befanden: Die starke Freiheitsliebe habe solche jungen Autoren wie Dowlatow (oder auch den mit ihm befreundeten Joseph Brodsky) an den unfreien Verhältnissen der Sowjetunion verzweifeln lassen - und folgerichtig in den freien Westen geführt. Nein, so war es nicht, und wenn man den Film mit offenen Augen sieht, dann erzählt er auch eine andere Geschichte: die der großen Langeweile einer neuen Generation, vom wachsenden Ekel angesichts der beiden Übel, vor denen sie standen, entweder sich anzupassen oder zum Dissidenten zu werden. Und wenn man beides nicht wollte, so wie die meisten hier? Dann schon eher in kleinen Kreisen von Gleichgesinnten ein Publikum finden.

Die Zusammenkünfte der Außenseiter des Kunstbetriebs, denen wir beiwohnen, scheinen immer mehreres zugleich: Stehparty in den Küchen der Gemeinschaftswohnungen, Auftrittsmöglichkeit ebenso wie Besäufnisgelegenheit, ein Hauch von Oppositionszirkel sowieso. Man plant keinen Umsturz im Land, wohl aber den im eigenen Leben - doch nicht jeder traut sich das. Auch Dowlatow (großartig als eine Art asketischer Dandy: Milan Maric) schreibt wie abwesend in sein Notizbuch hinein, was die Arbeiterfunktionäre auftragsgemäß über den nächsten Stapellauf zu Ehren der Oktoberrevolution herunterbeten, stellt sich ihnen auch schon mal händeschüttelnd als Franz Kafka vor. Die böse Pointe als geistige Notwehr.

Eine Literaturzeitschrift schlägt ihm einen Handel vor. Vielleicht wird man etwas von ihm drucken, wenn er zuvor ein Gedicht über die Ölförderung schreibt und ein Interview mit einem schreibenden Arbeiter liefert. Er verfasst das Ölgedicht, aber es klingt immer noch wie ein Gedicht von ihm und nicht nach Planerfüllung. Und der Arbeiter bietet ihm Prügel an, er hat bereits wieder aufgehört zu schreiben.

Für die Betriebszeitung ist sein ans Höhnische grenzender ironischer Ton doch allzu unüberhörbar, man entlässt ihn, wenn auch nicht ohne Bedauern, sich zu so einem Entschluss aufraffen zu müssen. Aber Störenfried bleibt Störenfried. Doch auch seiner Frau wird diese Art von getriebener Boheme-Existenz, die Unfähigkeit, das zu tun, was man von ihm verlangt, zunehmend befremdlich. Manche unter Dowlatows Freunden halten den ewigen Nebel nicht aus, sie erhängen sich oder laufen vor der Polizei davon, die sie wegen Schwarzmarkgeschäften verhaften will - direkt unter die Räder eines Armeetransporters.

Dieses detailgetreue Sittengemälde des sozialistischen Biedermeiers der Breschnew-Zeit verbleibt konsequent im Leichenweiß des Leningrader Nebels. Das ist auf beklemmende Weise großartig.

Dowlatow wird (wie auch Joseph Brodsky) 1978 die Sowjetunion verlassen, reist mit einem einzigen Koffer aus - und fragt sich, ob das alles sei, was von seinem 37-jährigen Leben geblieben ist. In New York gilt er nun als dissidentischer Dichter, den man gern druckt - aber wo war das Publikum, für das er einst schreiben wollte? Er starb 1990 mit 48 Jahren. In Russland sind seine Bücher heute Bestseller.

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