nd-aktuell.de / 01.03.2018 / Gesund leben / Seite 10

Effizient bis in die Seele

In einem wettbewerbsorientierten Gesundheitswesen wird immer seltener nach dem Sinn von Symptomen gefragt

Christa Schaffmann

Psychische Erkrankungen sind nacheiner aktuellen Übersicht der Bundespsychotherapeutenkammer der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit. Die Krankschreibungen in diesen Fällen liegen im Durchschnitt bei 34 Arbeitstagen. Das Mittel der Wahl gegen das Leiden der Patientinnen und Patienten ist eine Psychotherapie - manchmal länger oder kürzer durch die Gabe von Medikamenten begleitet.

Seit Hippokrates weiß man um Krankheiten der Seele wie Depressionen und Wahnvorstellungen. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich aus der Medizin die Psychotherapie zeitgleich mit der modernen Psychologie. Unterschiedliche Behandlungsverfahren wurden entwickelt, angefangen von der Psychoanalyse über die Verhaltenstherapie bis hin zu neueren Ansätzen in den 1980er Jahren zur Behandlung von Ängsten und traumatischen Erinnerungen. Heute beträgt hier der Anteil der Verhaltenstherapie (VT) bereits über 50 Prozent, der der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie (TP) etwa 44 Prozent und derjenige der analytischen Psychotherapie (AP) 2,4 Prozent. Nur diese drei sogenannten Richtlinienverfahren werden von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt.

Die mit den neoliberalen Reformen eingeleitete Entwicklung im Gesundheitswesen hat eine eigene Dynamik bekommen. Wissenschaftliche Studien zur Psychotherapie beziehen sich heutzutage nicht zufällig überwiegend auf die Verhaltenstherapie, welche auch die Basis für psychologische und psychotherapeutische Online-Beratungen bietet und bald womöglich auch für entsprechende Therapien. Ausbildungsangebote folgen dem gleichen Trend, wie die Absolventenzahlen belegen. Zwar steigt die Zahl approbierter Psychotherapeuten, von 1644 Absolventen erwarben 2014 jedoch nur 344 einen Abschluss in TP und AP zusammengenommen.

Man könnte auf die Idee kommen, das alles liege vorrangig an den Krankenkassen, die die Kosten damit niedrig halten wollen. Schließlich variieren die Behandlungszeiten auch durch die angewandten Verfahren. Sie reichen von 25 Sitzungen für eine Kurzzeittherapie bis hin zu 160 Sitzungen für eine Psychoanalyse. Jürgen Hardt, Psychoanalytiker, Psychologischer Psychotherapeut und Gründungsmitglied der Psychotherapeutenkammer Hessen, hat eine ganz andere Erklärung. »Die gemeinschaftliche Krankenversorgung - mit christlicher Verpflichtung und gewerkschaftlicher Solidarität - ist innerhalb der vergangenen 20 Jahre durch einen entfesselten Gesundheitsmarkt abgelöst worden«, sagt er. Der Umbau des Gesundheitssystems, seine ökonomistische Transformation, wurde, so Hardt, durch das 2007 verabschiedete Wettbewerbsstärkungsgesetz vollendet. »Eigennutz und Wettbewerb traten an die Stelle vom Dienst am Mitmenschen, kurzzeitig messbare Effizienz an die von nachhaltiger Wirkung.«

Es gehe nur noch darum, rasch wieder fit zu werden für den Arbeitsmarkt. Nach dem Sinn der Symptome zu fragen, danach, welche Funktion eine psychische Störung im seelischen Getriebe hat, sei unter diesen Umständen gar nicht mehr möglich.

Als Beispiel nennt der Psychoanalytiker die Verdrängung einer Erfahrung, Erkenntnis oder eines Erlebnisses. Unerkannt setzt diese Verdrängung sich fort in einem anderen Symptom - einem psychischen oder einem somatischen wie Schmerz. Beide interagieren dynamisch. Eine solche Konstellation ist dem Patienten in der Regel nicht bewusst; der Therapeut kann sie nicht abfragen, wie einen Unfall oder eine frühere Operation im Rahmen einer Anamnese. Sie freizulegen ist eine geradezu archäologische Aufgabe und braucht Zeit.

Die erwiesene Nachhaltigkeit der analytischen Psychotherapie, die nach solchen tieferen Ursachen für eine Erkrankung sucht, wird Hardt zufolge ignoriert; Hauptsache, die Patientin oder der Patient ist rasch zurück im gesellschaftlichen Verwertungsprozess. Die Manipulation sei bereits so weit fortgeschritten, dass die Mehrheit der Patienten dafür sogar Verständnis aufbringt und eine Normopathie - eine zwanghafte Form von Anpassung an vermeintlich vorherrschende oder alternativlose Verhaltensweisen und Regeln - entwickelt. Auch aus dieser Art der Verdrängung gesellschaftlicher Fehlentwicklungen können Krankheitsbilder entstehen.

Behandelt werden diese Fragen auf dem Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie vom 8. bis 11. März in Berlin. Gegründet wurde diese Organisation 1991 als Gegengewicht zu den nur naturwissenschaftlichen Strömungen der Psychologie.