nd-aktuell.de / 05.03.2018 / Montagmorgen / Seite 14

Hund, süß-sauer

Mein vietnamesischer Nachbar ist nur ein Jahr jünger als ich. Erlebt hat er aber so viel, dass es für sein und mein Leben reichen würde. Seine ersten Lebensjahre verbrachte er quasi unter Tage - in einem Grabensystem, in dem sich die Bewohner seines Heimatdorfes vor den US-Bomben schützten. Als er sechs Jahre alt war, fiel sein Vater im Krieg. Mit 20 zog er das große Los; er wurde von seiner Nähmaschinenfabrik auserwählt und als Vertragsarbeiter in die DDR geschickt. Hier waren die Menschen freundlich und gut genährt. Die weibliche Bedienung, die ihm und den anderen mehr als 100 Männern aus Vietnam nach der Landung in Schönefeld Broiler servierte, hatte Arme, »so dick wie meine Oberschenkel«. Ein Land, das seine Frauen so gut ernähren kann, muss ein reiches Land sein. Dachte sich mein Nachbar - und blieb.

Es gab aber von Anfang an auch einige Missverständnisse. Als er und seine Kumpels zum ersten Mal ihre Unterkunft alleine verließen, um sich in der Kaufhalle nach Essbarem umzusehen, war ihr Problem, dass sie der Landessprache noch nicht mächtig waren. Aber, zum Glück, gab es auch in der sozialistischen DDR schon Bilder auf den feilgebotenen Waren: Eine ganze Abteilung nur mit Hundedelikatessen in Dosen! Dass die Deutschen auch Hund mögen, hat meinen Nachbarn sehr gefreut, also haben er und seine Freunde einige Dosen mitgenommen. Gut, dachten sie sich, Hund in der Konservendose mag jetzt vermutlich nicht gerade das Leckerste sein, aber gespannt waren sie schon auf die Fähigkeiten der Deutschen, Hund zuzubereiten.

Man kann sich die Enttäuschung vorstellen, als die Dose geöffnet, der Inhalt in einen Topf geschüttet und das Erwärmte anschließend verkostet wurde. Die Deutschen, das war meinem Nachbar schnell klar, können zwar viel; sie können ihre Frauen gut ernähren, stabile Häuser bauen und breite Straßen, auf denen Autos fahren können, aber sie haben keinen blassen Schimmer, wie man Hund süß-sauer zubereitet.

Mein Nachbar hat sich mittlerweile an hiesige Gewohnheiten angepasst. So trinkt er etwa gerne fränkisches Bier. Als wir uns vor 13 Jahren kennenlernten, erzählte er mir, dass er als Rentner nach Vietnam zurückkehren wolle. Neulich aber sagte er, er werde doch hier bleiben. Zu viel Korruption! »Die kannst du auch hier haben«, antwortete ich ihm. »Ja«, entgegnete er, aber so schlimm wie bei seiner Mutter zuhause sei es dann doch noch nicht. Also hat er beschlossen, dass er, seine Frau, ich und meine Liebste zusammen im Haus alt werden sollen. Schräg gegenüber unserem Haus betreibt mein vietnamesischer Nachbar einen kleinen Spätverkauf. Hier bekommt man von Bier, Wein, Schnaps, Zigaretten bis zu Gemüse, Obst und Lebensmittelkonserven alles. Auch Hundefutter. »Vielleicht solltest du auch mal Sauerkraut ins Sortiment nehmen«, schlug ich ihm kürzlich vor; »in Berlin geht das gut.« Seine Ablehnung war unmissverständlich: »Sauerkraut? - damit würden wir in Vietnam nicht einmal einen Hund füttern!«