Wohin treibt das Tarifsystem?

Tariflose Zustände nehmen zu / Gewerkschaften suchen Auswege

  • Marcus Schwarzbach
  • Lesedauer: 2 Min.
Die Tarifbindung geht seit Mitte der 1990er Jahre zurück. Nur noch in fünf von 13 Wirtschaftsbereichen erfassen Branchentarifverträge zwei Drittel der Beschäftigten. Reinhard Bispinck, Leiter des WSI-Tarifarchivs in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung sieht die Gewerkschaften vor großen Herausforderungen. Wissenschaftler und Gewerkschafter analysieren in »Wohin treibt das Tarifsystem?« die Folgen des Umbruchs .
Ursachen des Wandels sind veränderte Strategien der Unternehmen. Immer mehr Betriebe treten aus dem Arbeitgeberverband und somit aus dem Flächentarifvertrag aus oder es besteht eine sogenannte OT-Mitgliedschaft, eine rechtlich umstrittene Konstruktion des Arbeitgeberverbandes ohne Tarifbindung. Die bestehenden Flächentarifverträge enthalten dabei bereits zahlreiche Öffnungsklauseln. Dadurch verlieren sie zunehmend die Funktion, Arbeits- und Einkommensstandards branchenübergreifend verbindlich festzulegen. Daneben ist auch eine »wilde« Dezentralisierung unter Bruch der Tarifverträge zu beobachten, so Bis-pinck. Auch die Zahl der Tarifbereiche mit tariflosen Zuständen wächst. In rund 40 Tarifbereichen weigern sich die Unternehmensverbände, Tarifverträge zu verhandeln. Ergänzt um Versuche, durch Einbezug des »Christlichen Gewerkschaftsbundes« DGB-Tarifverträge zu unterlaufen. Neben dieser Bestandsaufnahme stellen die Autoren auch Gegenstrategien vor. Und mit konkreten Beispielen wird die schwierige Mobilisierung von Beschäftigten in Dienstleistungsbereichen - etwa bei Kino-Ketten oder dem Hotelgewerbe - dargestellt. Das Thema Sozialtarifverträge zeigt, wie betrieblich durch das Streikrecht eine Unternehmensentscheidung, wie die Verlagerung ins Ausland oder die Betriebsschließungen, zur Aktivierung der Arbeiter genutzt werden kann. Erste Erfahrungen mit dem Konzept »besser statt billiger« erläutert Detlef Wetzel, Leiter der IG Metall Nordrhein-Westfalen. Die Gewerkschaften wollen so aus der Defensive herauskommen, bei Verlagerungsdrohungen über den Ausstieg aus dem Flächentarif verhandeln zu müssen. Vielmehr soll die Bedeutung qualifizierter Beschäftigter und die Entwicklung von Innovationen durch die Belegschaft thematisiert werden. Eine stärkere Konfliktorientierung müsse dort, wo Angriffe auf Tarifstandards erfolgen, aber auch, wo es um die Durchsetzung neuer Forderungen geht, Grundlage gewerkschaftlichen Handelns sein. Mit der »Neujustierung des Verhältnisses von Tarif- und Betriebspolitik« soll dieser Entwicklung Rechnung getragen werden und es den Gewerkschaften gelingen, Stärke und Einfluss zurückzugewinnen, so Bispinck. Auch der Gesetzgeber sollte die Re-Stabilisierung des Tarifsystems flankieren. Dazu gehört auch ein gesetzlicher Mindestlohn. Der Buchtitel irritiert. Denn der Band verdeutlicht, dass es vom Engagement der Beschäftigten und der Mobilisierungskraft der Gewerkschaften abhängt, in welche Richtung sich das Instrument Tarifvertrag entwickelt. Reinhard Bispinck, Wohin treibt das Tarifsystem?, 2007, VSA-Verlag.
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