nd-aktuell.de / 14.03.2018 / Kultur / Seite 2

Meisterin der Nahdistanz

Åsne Seierstad erhält zur Eröffnung der Messe im Gewandhaus den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung - eine gute Entscheidung

Velten Schäfer

Mit 15 hieß er »Morg«. Das war sein »Tag«, sein Signet. Er zog mit Kumpels nachts umher und sprühte sich auf Oslos Wände. Er stand auf »schweren, rollenden« Hip-Hop und bewunderte die Coolness der schwarzen Viertel New Yorks. Er erfüllte die Codes dieser Szene, die eher links als rechts waren, er gehörte eben dazu. In Auseinandersetzungen zwischen einheimischen und eingewanderten Jugendlichen hielt er als Weißer zu den »Brownies«. Die fand er cooler.

Als ihn einmal ein strenger Lehrer beim Sprayen ertappte und vor Zeugen schlug, boxte er zurück. Der Lehrer ging zu Boden, Morg hingegen wurde bewundert und hatte einen Namen. Dann aber wurde er wieder erwischt. Und nun verstieß ihn die Tagger-Gemeinschaft: Morg habe gepetzt, hieß es, auf der Straße war er jetzt eine Unperson. Zugleich aber auch zu Hause, denn er hatte sein Versprechen gebrochen, nie wieder eine Dose in die Hand zu nehmen. Der Vater wandte sich ab von seinem Sohn.

In der Folge wurde Morg zu Anders, »Anders Behring«, das klang besser als das bäuerliche »Breivik«. Anders erzählte herum, er sei vielleicht mit Vitus Bering verwandt, dem dänischen Entdecker der gleichnamigen Seepassage. Er wechselte die Schule, den Stil und das Lager. Bei der Jugend der »Fortschrittspartei« bekam er gleich eine Funktion.

Zuerst war Anders nur neoliberal: »Get rich or die trying« schrieb er in ein Parteiforum, »werde reich oder stirb beim Versuch«. Vielleicht ein letzter Bezug zum Hip-Hop: So hieß das Debütalbum des Rappers 50 Cent. Nach diesem Credo hasste er die Arbeiterpartei: Man könne nicht reich werden, wenn sie regiert. Jetzt wurde Anders auch sehr eitel. Er sorgte sich um seinen Glatzenansatz, doch eine Haartransplantation fürchtete er, es könnte Narben geben. Er zog sich die Augen nach, schminkte und puderte sich, metrosexuell nannte man das damals.

Wie dieser junge Mann gar nicht sehr viel später dazu kam, sich zu einem wahllosen Massenmord an 77 jungen Norwegerinnen und Norwegern »berechtigt« zu sehen, weil diese für das Ende eines weißen Europas stünden, erzählt die norwegische Starjournalistin Åsne Seierstad in ihrem Bestseller »Einer von uns«. Für dieses Buch, auf deutsch 2016 erschienen, erhält sie nun den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, mittels dessen die Leipziger Buchmesse jährlich ihre politisch-moralische Haltung indiziert. Und obwohl dieser Preis eigentlich primär der Verständigung mit Mittel- und Osteuropa dienen soll, ist das eine gute Entscheidung. In ihrem Buch über Breivik wie in ihrem neusten, 2017 erschienenen Titel über »Zwei Schwestern«, die sich aus dem behüteten Norwegen in den syrischen Dschihad aufmachten, zeigt Seierstad eine publizistische Tugend, die im Angesicht des Terrors ins Hintertreffen zu geraten droht: Verständnis - was so wenig mit Billigung zu tun hat wie Vergleich mit Gleichsetzung.

Seierstad hat nicht nur intensiv recherchiert in den diversen Umfeldern, die Breivik in seiner Mörder-Werdung durchlaufen hat, sondern sich auch in ihn »hineinversetzt«. Das ist natürlich ein Grenzgang. Doch der Tatsachen-Roman, der das Ergebnis dieser Haltung ist, vermeidet eine platte Psychologisierung. Es wir etwa keine gerade Linie gezogen zwischen der Aufmerksamkeitssucht eines taggenden Jugendlichen und dem Ego-Rausch, den eine so monströse Tat fraglos erfordert. Es gibt nicht den einen vermeintlichen Schlüsselmoment, nach dem das Massaker als unausweichlich erscheint. Gerade das macht die Lektüre so realistisch bestürzend.

So ist »Einer von uns« jenseits seines journalistischen Inhalts auch ein Ausweis literarischen Könnens. Die 1970 in Oslo geborene Autorin - lange im »harten« Nachrichtenfach als Kriegs- und Krisenreporterin aktiv - hat dieses »weiche« Genre der faktenbasierten Erzählung aus der Nahdistanz zu einer gewissen Meisterschaft gebracht. Dass sie dabei Lehrgeld zahlen musste - ihr erstes derartiges Buch namens »der Buchhändler von Kabul« zog lange Prozesse nach sich, weil Seierstad den weiblichen Hauptpersonen zu nahe getreten war - schmälert den Verdienst des Breivik-Buches nicht. Und ja: Natürlich hätte sich das Buch nicht so gut verkauft, wenn es nicht auch voyeuristische Leseinteressen bediente. Ein Selbst- oder der Hauptzweck des Buches sind diese aber nicht.

Åsne Seierstad: Einer von uns. Die Geschichte des Massenmörders Anders Breivik. Kein & Aber 2016, 544 S., geb., 26 €.