nd-aktuell.de / 14.03.2018 / Berlin / Seite 9

Fast ein antisemitischer Vorfall pro Tag

Berliner Register und Opferberatungsstelle ReachOut stellen Zahlen extrem rechter Angriffe und Beleidigungen vor

Johanna Treblin

Ferat Kocak schläft schlecht. In der Nacht zum 2. Februar wurde sein Auto angezündet, das direkt vor seinem Haus parkte. »Ich kann immer nur zwei Stunden gut schlafen, immer dann, wenn ich gesehen habe, dass die Polizei vor meinem Haus vorbeigefahren ist.« Kocak gehört dem Bezirksvorstand der Linkspartei in Neukölln an. In der gleichen Nacht, in der sein Auto brannte, brannte auch das des Buchhändlers Heinz Ostermann in Britz. Die Täter waren vermutlich Neonazis.

Kocak sitzt am Dienstagvormittag im Seminarraum der Werkstatt der Kulturen in Neukölln. Die Opferberatungsstelle ReachOut und die Berliner Register stellen die Zahlen rechter, rassistischer und antisemitischer Vorfälle für das Jahr 2017 vor. Der Ort ist nicht zufällig gewählt: Neukölln war im vergangenen Jahr ein Schwerpunkt rechter Anschläge auf linke und demokratische Menschen und Einrichtungen. Unter anderem wurden im vergangenen November 16 Stolpersteine gestohlen.

Insgesamt hat die Zahl rechter, rassistischer und antisemitischer Angriffe 2017 im Vergleich zum Vorjahr um rund 30 Prozent abgenommen: Dennoch lag die Zahl im vergangenen Jahr noch immer bei 267. Sabine Seyb von ReachOut sprach von einem »erfreulichen Rückgang«, wies aber zugleich darauf hin, dass die 380 Angriffe, die 2016 verzeichnet worden waren, die höchste Zahl seit der Gründung der Opferberatungsstelle war. Seit 2008 waren die Angriffszahlen kontinuierlich gestiegen, von 2014 auf 2015 sprunghaft (179 auf 320). »Wir gehen davon aus, dass Wutbürger und Neonazis sich durch die Präsenz der AfD in den Parlamenten gut aufgehoben fühlen«, sagte Seyb. Der Rückgang sei »kein Grund zur Entwarnung«. Er könne auch bedeuten, dass sich Menschen, die Angst haben, Opfer von Gewalt zu werden, seltener alleine auf die Straße trauen.

Rassismus war laut ReachOut auch 2017 wieder das häufigste Tatmotiv. In den Bereich fielen 2016 noch 233 Angriffe, im Jahr darauf waren es 140. Gleichbleibend hoch waren auf dem zweiten Platz Angriffe auf Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Identität. 2016 waren es 70 Taten, 2017 mit 67 nur geringfügig weniger.

Gleich geblieben ist mit 32 auch die Zahl der Taten im unmittelbaren Wohnumfeld von Personen, die gegen Rassismus aktiv sind. 14 waren es in Neukölln, im Wedding acht. Darunter fielen Brandanschläge und sogenannte Schmierereien: In roter Farbe waren Namen mit dem Zusatz »Rote Sau« an Wohnhäuser geschrieben worden. Seyb nannte diese Angriffe besonders schlimm, weil sie den Betroffenen ihre sicheren Rückzugsorte nehmen.

Nachdem sich die Serie von Brandanschlägen in Neukölln auch 2018 fortgesetzt hat - darunter der Anschlag auf das Auto von Ferat Kocak -, forderte die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Neukölln die Polizei Anfang März auf, auf eine Einstufung der Taten als Terror hinzuwirken.

Die Berliner Register dokumentieren neben Angriffszahlen auch Vorfälle wie Beleidigungen und Pöbeleien, außerdem registrieren sie, wann und wo rechte Aufkleber geklebt werden und Veranstaltungen stattfanden. Insgesamt verzeichneten sie für 2017 eine Zunahme auf exakt 2800 Vorfälle, teilte Kati Becker am Dienstag mit, die die Register der zwölf Bezirke koordiniert. Im Bezirk Mitte habe es an fast jedem Tag des Jahres mindestens einen Vorfall gegeben, berichtet Becker. Auch die Register dokumentierten einen starken Rückgang rassistischer Vorfälle. Vor allem, weil es keine großen Mobilisierungen mehr zu Flüchtlingsheimen gebe.

Antisemitische Angriffe haben zwar von 31 auf 13 abgenommen. Gleichzeitig haben aber Vorfälle mit antisemitischem Motiv stark zugenommen. Das liegt Becker zufolge vor allem daran, dass israelische und jüdische Einrichtungen ihnen bekannt gewordene Vorfälle nun regelmäßig weiterleiten.

Dennoch stimmte Becker der aus dem Publikum geäußerten Ansicht zu, dass sich ein gesellschaftliches Klima ausbreite, in dem sich Juden zunehmend unsicher fühlten. »Das Bedrohungspotenzial ist immens«, sagte Becker. Fast täglich gebe es antisemitische Vorfälle.