Eine Stadt im Un-Ruhestand

Als Alternative zur Altenarbeit entstanden, ist die Dietzenbacher Seniorenhilfe heute Motor eines bundesweit einmaligen Integrationsprozesses geworden.

  • Günter Hoffmann
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.
Mittwochnachmittag in Dietzenbach, einer 35 000 Einwohner zählenden Kleinstadt im Ballungsgebiet des Rhein-Main-Gebietes. Ein ungewohnter Anblick. Acht Jugendliche, die als potenzielle »Azubis« ins Berufsleben drängen, sitzen im Internet-Café vor den Bildschirmen und lernen, ihren Lebenslauf und ihr Bewerbungsschreiben fehlerfrei zu formulieren und nach freien Lehrstellen zu recherchieren.
Ihr Lehrer ist der 74-jährige Eugen Eppinger. Der ehemalige Kundendienstleiter einer Elektronikfirma engagiert sich seit seiner Pensionierung in der Gruppe »Alt hilft Jung« der Seniorenhilfe Dietzenbach (SHD). »Ich wurde gefragt, ob ich beim hiesigen Ausbildungsforum mitmachen würde, um die Qualifikation der jugendlichen Schulabgänger zu verbessern.« Eppinger wollte, denn »das war eine sinnvolle Aufgabe für mich, in der ich meine Berufserfahrung einbringen konnte«.

Mit gängigem Angebot nicht zu erreichen
Mit drei ebenfalls pensionierten Kollegen richtete er als erstes das Internet-Café im alten Rathaus der Stadt ein und begann Computerkurse für Hauptschüler und inzwischen auch für Senioren zu geben. Und eine weitere Besonderheit: Eppinger und seine Kollegen erhalten für ihr Engagement Zeitgutschriften, mit denen sie selbst jetzt oder später Leistungen in Anspruch nehmen können.
Die Seniorenhilfe entstand Ende 1993, als ein Aufruf des Kreises Offenbach in der Lokalzeitung erschien: Interessenten für die Gründung einer Seniorengenossenschaft gesucht. »Wir wollten einen Rahmen schaffen, in dem die jungen Alten ihr in langen Berufsjahren erworbenes Wissen, ihren Erfahrungsschatz und ihren Betätigungswillen sinnvoll in die Gemeinschaft einbringen können«, so Mathilde Al Dogachi. Als ehemalige Leiterin der städtischen Seniorenarbeit hatte sie die Gründung des Projekts mitgetragen, denn sie wusste, dass »heute immer mehr 50- bis 55-Jährige frühzeitig aus dem Berufsleben scheiden. Diese Generation ist mit den gängigen Angeboten der Altenarbeit nicht mehr zu erreichen.«
Zwölf Personen fanden sich schließlich zu einer Initiativgruppe zusammen und begannen, das Projekt einer Seniorenhilfe ehrenamtlich aufzubauen. Dabei dienten ihnen die Seniorengenossenschaften in Baden-Württemberg als Vorbild. Aber anders als diese Vorläufer-Projekte, die vom ehemaligen Ministerpräsidenten Lothar Späth initiiert und jeweils üppig mit rund 300 000 D-Mark (153 000 Euro) pro Jahr gefördert wurden, mussten sich die Dietzenbacher Initiatoren mit einer geringen Anschubfinanzierung begnügen und müssen sich über ihre Mitgliedsbeiträge selbst finanzieren.
Als die SHD schließlich ein halbes Jahr später offiziell gegründet wurde, hatten sich bereits rund 500 Mitglieder eingeschrieben. Dieser rasche Erfolg des Dietzenbacher Modells beruht auf dem einfachen Prinzip: Die Mitglieder erhalten für ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten Zeitgutschriften auf ihrem Konto gutgeschrieben. Und zwar zwei Zeitpunkte pro Stunde, egal welche Arbeiten sie leisten. Die Punkte können bei Bedarf gegen andere Leistungen eingetauscht werden oder aber gespart und in späteren Jahren bei eigener Hilfsbedürftigkeit abgerufen werden.
Eckhard Marschall arbeitete als Verkaufsingenieur für eine internationale Ölgesellschaft. Bis vor neun Jahren. Als 55-Jähriger erhielt er die Kündigung und wurde durch einen jüngeren Kollegen ersetzt. »Das war ein Schock für mich. Obwohl ich fit und leistungsstark war, fühlte ich mich abgeschoben und geriet in eine tiefe Krise.« Auf der Suche nach einer sinnvollen Beschäftigung entscheidet sich Marschall für das Engagement in der SHD. »Ihr Prinzip hat mich sofort überzeugt. Heute fühle ich mich fit und bringe mich mit meinen Fähigkeiten in die Gemeinschaft ein - und wenn ich selbst Hilfe benötige, ist auch jemand für mich da.« Da Marschall gerne wandert, begann er Wanderungen und Fahrradtouren zu organisieren. Heute organisiert er zusätzlich Besichtigungen von Kraftwerken, Müllverbrennungsanlagen, Brauereien oder beim Deutschen Wetterdienst und ist stolz drauf, dass seine Fahrten immer frühzeitig ausgebucht sind. Durch sein Engagement hat Marschall inzwischen über 2000 Zeitpunkte gesammelt.
Die Seniorenhilfe hat heute über 1800 Mitglieder, das sind rund fünf Prozent der Dietzenbacher Bevölkerung. Ihr jüngstes Mitglied ist 15, die Älteste 102 Jahre alt. Im vergangenen Jahr erarbeiteten die 230 aktiven Mitglieder in über 2000 Einsätzen rund 22 000 Punkte. Tendenz weiter steigend. Ihre Aktivitäten reichen von Lesehilfen und Bibliotheksdienst in den Schulen bis zum Hilfs- und Betreuungsdienst, von Computerkursen bis zu Hilfen beim Schriftverkehr, von der Hilfe bei der Wohnungsrenovierung bis zur Sterbebegleitung.

Gründeraktivisten brauchen selbst Hilfe
Der tägliche Bürodienst ist das Herzstück der SHD. Die Mitarbeiter nehmen die Anfragen entgegen, suchen nach Aktiven, die Aufträge annehmen können und verwalten die Punkte-Konten. Seit Bestehen der SHD wurden von den Aktiven knapp 200 000 Punkte erarbeitet. Rund 15 Prozent sind bisher wieder eingelöst worden. Auch hier ist die Tendenz steigend, denn die Aktiven der Gründerjahre haben inzwischen ein Alter erreicht, in dem sie selbst fremde Hilfe beanspruchen müssen.
Die SHD hilft aber auch den Mitgliedern, die sich durch ihre Behinderung oder Krankheit keine Punkte sammeln konnten. Entweder wird die Hilfeleistung für diese passiven Mitglieder über gespendete Punkte auf dem Sozialkonto abgerechnet oder gegen eine Verwaltungsgebühr: Die erste Stunde kostet dann 3,50 Euro, jede weitere Stunde 1,50 Euro.
Die Seniorenhilfe ist kein Verein im üblichen Sinne. Sie hat sich in Dietzenbach zu einem renommierten Partner für die Stadt, die Wohlfahrtsverbände und Kirchen, für Wirtschaftsverbände, Schulen und Ausländerbeirat entwickelt. Wie gut beispielsweise die Zusammenarbeit mit den Verwaltungsstellen der Stadt funktioniert, beschreibt Eckhard Marschall. »Durch meine Aktivitäten in der SHD habe ich ein offenes Auge für die Stadt bekommen. Wenn ich beim Radfahren Schlaglöcher sehe, die für Wanderer und Jogger gefährlich werden könnten, melde ich das dem Bauamt und die Stadt reagiert darauf. Oder es gibt Plätze, wo eine Sitzbank nützlich wäre. Ich bekam den Auftrag, eine Skizze zu machen und anzugeben, wo man die Bänke aufstellen könnte. Da spricht man dann mit dem Bauern, dem das Stückchen Land gehört, und am Ende werden unbürokratisch zehn Bänke aufgestellt. Und man sieht dann auch wirklich Menschen darauf sitzen.«
Ob es eine defekte Waschmaschine oder eine dringend benötigte Wohnungsrenovierung ist; die Verantwortlichen der Seniorenhilfe wussten, dass nachbarschaftliche Reparaturhilfen gerade bei einkommensschwachen Mitgliedern stark gefragt sind. So sprachen sie mit der Handwerkskammer und dem Gewerbeverein und stellten ihr Projekt vor. Hier stießen sie auf Verständnis, solange ihre Aktivitäten den Charakter von Reparaturhilfe tragen würden. Auch die Pflege- und sozialen Hilfsdienste empfinden die SHD nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung. Denn die Einführung der Pflegeversicherung hat die Hilfsdienste in ihren Leistungen eingeschränkt. Für eine umfassende soziale Betreuung der alten Menschen ist meistens keine Zeit.

Dankbarkeit allein schon fürs Zuhören
Das wissen die Verantwortlichen der SHD und versuchen auch hier zu helfen. Helga Eglinski beispielsweise ist seit acht Jahren Mitglied in der SHD und in der Kinder- und Altenbetreuung tätig. Die 68-jährige gelernte Verwaltungsangestellte springt ein, wenn pflegende Familienangehörige außerhäusige Termine haben, erledigt Einkäufe, begleitet Kranke zum Arzt oder ist einfach nur da, zum Erzählen oder Vorlesen. »Es ist unglaublich, welche Dankbarkeit ich alleine dadurch erhalte, dass ich Zeit habe und den Menschen zuhören kann«, so die engagierte Seniorin. Rund 44 Prozent der SHD-Aktivitäten liegen im Bereich der Begleit- und Betreuungsdienste. Aber hier ist man nicht nur für Mitglieder aktiv. Der Gesprächskreis für pflegende Angehörige und der Hospizdienst stehen allen Dietzenbachern unentgeltlich zur Verfügung.
Die SHD hat sich über Dietzenbach hinaus einen Namen gemacht. Ursprünglich als Alternative zur gängigen Altenarbeit entstanden, ist sie heute zum Motor eines Integrationsprozesses geworden, der einmalig ist in Deutschland. Wo täglich über die Belebung des ehrenamtlichen Engagements, das Ende des Generationenvertrages, über die Nichtfinanzierbarkeit von Renten diskutiert wird, gehen hier junge Alte, aber auch ganz Alte und ganz Junge die ersten Schritte auf dem Weg in Richtung einer Bürgergesellschaft.
Schätzungsweise 80 Seniorengenossenschaften gibt es in Deutschland. Die mit Abstand größte und bedeutendste ist die SHD. Nach ihrem Vorbild haben sich alleine im Kreis Offenbach zwölf weitere Seniorengenossenschaft...

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