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»Was Unrecht war, darf nicht Recht werden«

Verharmlosen, beschwichtigen, beschönigen: Der Fall Filbinger und der Fall Oettinger / Weil der Protest gegen die Skandalrede anhält, sah sich die CDU-Spitze zum Eingreifen gezwungen

Gestern musste Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) einen Besuch beim Papst sausen lassen, weil er - nach anhaltenden Protesten - zum Parteipräsidium einbestellt wurde. Aus aktuellem Anlass, wie es salomonisch hieß.
Womöglich ist Benedikt XVI. bei dieser Nachricht ein mittlerer Stein vom Herzen gefallen: Günther Oettinger kam gestern doch nicht nach Rom, wo er nicht nur an den Papst-Jubiläumsfestspielen teilnehmen, sondern auch »eine kurze Rede halten« wollte.
Bei solchen Drohungen schrillen inzwischen die Alarmglocken. Erst letzte Woche hatte sich Oettinger mit einer Rede auf den verstorbenen Hans Filbinger - einst NS-Marinerichter und später einer von Oettingers Amtsvorgängern - ins Gespräch gebracht. So nachhaltig, dass die Bundeskanzlerin nach zwei Tagen Stillhalten Anlass zum Handeln sah. Angela Merkel griff zum Telefon und sagte Oettinger, sie hätte sich gewünscht, dass neben der Würdigung Filbingers »auch die kritischen Fragen im Zusammenhang mit der Zeit des Nationalsozialismus zur Sprache gekommen wären«.
Was Merkel am Montag durch den Vize-Regierungssprecher als klare, pointierte Stellungnahme darstellen ließ, ist eine Beschönigung. Es gibt keine wesentlichen Fragen zu Filbingers Rolle als Marinerichter in der NS-Zeit. Es gibt Fakten: Er ist verantwortlich für Todesurteile gegen Deserteure, er diente dem NS-System bis zum Schluss und in Gefangenschaft sogar noch bis fünf nach zwölf .
Auf Filbingers Internetseite liest sich das freilich ganz anders. Dort findet man noch immer ausschweifende Betrachtungen, die Filbingers Taten verharmlosen und rechtfertigen. Der erste Satz unter der Rubrik »Fakten über Filbinger« lautet: »Es gibt kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte.« Exakt diesen Satz hat Günther Oettinger in seiner Trauerrede am vergangenen Mittwoch verwendet. Ohnehin berichten Insider, die Rede sei in enger Abstimmung mit Filbingers Familie entstanden. Oettinger selbst weist in einem Offenen Brief vom Sonntag darauf hin, dass seine Rede »in erster Linie an die Familie des Verstorbenen und an die Trauergemeinde, darunter eine große Zahl von langjährigen Freunden und Weggefährten«, gerichtet gewesen sei.
Filbingers Freunde und Weggefährten gehören zu jenen Traditionsbataillonen der Südwest-CDU, die Oettinger nach Ansicht des Grünen-Politikers Boris Palmer bedient. Die stramm Konservativen, die angesichts dunkler NS-Kapitel gern ein Auge zudrücken, sind in Baden-Württemberg ein Machtfaktor. Filbingers Vorgänger als Stuttgarter Ministerpräsident, Kurt Georg Kiesinger, der spätere Bundeskanzler, war NSDAP-Mitglied und arbeitete im Reichsaußenministerium. Den Freunden der Filbingers und Kiesingers hat Oettinger aus parteitaktischem Kalkül zum Munde geredet, wie ja auch der Kampf der CDU gegen die in Baden-Württemberg starken rechtsextremen Republikaner vor allem darin bestand, deren Parolen zu kopieren. Nicht von ungefähr meint der Freiburger Politologe Ulrich Eith, Oettinger werde am Ende gestärkt sein, denn er habe die CDU-Rechte gewonnen.
NS-Opfer dagegen sind empört. »Unsere Toten werden beleidigt«, sagte Manfred Böhmer, Vorsitzender des Niedersächsischen Verbandes der Sinti und Roma. »Gegner des Systems befanden sich im Allgemeinen in Lagern wie diesem und nicht in Institutionen, in denen sie als Marinerichter der Nazis arbeiteten«, hieß es auf einer Gedenkfeier zum Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald. Und Hans Coppi von der antifaschistischen Vereinigung VVN-BdA, dessen Eltern von den Nazis hingerichtet worden waren, erklärte: »Was damals Unrecht für Millionen Opfer des Faschismus war, darf nicht durch eine schönredende Rehabilitierung der Täter von einst zu Recht werden.«
Fünf Tage hat es Oettinger mit Beschwichtigung versucht. Bestärkt durch Parteifreunde, die seine Skandalrede verteidigten, lobten, sogar bejubelten, hat er sich darauf verlegt, nicht die Rede selbst zu bedauern, sondern ihre Wirkung, und Missverständnisse zu beklagen. Das ist erst recht perfide: Es unterstellt den Kritikern, falsch verstanden zu haben. Die Schuld läge dann sonstwo, nur nicht bei Oettinger. Nur weil der öffentliche Protest nicht nachließ, sah sich die CDU-Spitze gestern gezwungen, einzugreifen und Oettinger zu einer Entschuldigung zu bewegen, die ihren Namen einigermaßen verdient.
Jetzt grassiert die Angst vor Missverständnissen auch anderswo. Kardinal Georg Sterzinsky untersagte den für den heutigen Dienstag in der Berliner Sankt-Hedwigs-Kathedrale geplanten Gedenkgottesdienst für Filbinger. Die Berliner Domgemeinde wollte diesen ehren, weil er 1945 einem zum Tode verurteilten Priester das Leben gerettet habe. Den Kardinal trieb indessen die Sorge um, der Gottesdienst könne missverstanden werden ...


Hintergrund: Die Filbinger-Fälle
Als Vorsitzender Richter war Filbinger an 138 Gerichtsverfahren und als Untersuchungsführer in 31 Verfahren beteiligt. In den insgesamt 169 Verfahren wurden von den insgesamt 198 Beschuldigten Urteile von einem halben Jahr Gefängnis bis hin zur Todesstrafe ausgesprochen.
Die häufigsten Delikte in diesen Verfahren waren Diebstahl, unerlaubte Entfernung von der Truppe, Wachvergehen, etwa 40 Prozent betrafen aber sogenannte politische Vergehen wie Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung, Widersetzung.
Als Vertreter der Anklage hat Filbinger an 63 Prozessen teilgenommen. Von den insgesamt 99 angeklagten Personen wurden 11 freigesprochen, 25 zu Arrest bis zu sechs Wochen, 23 zu Haft von sechs Monaten, 20 zu 12 Monate, acht zu zwei Jahren und sieben zu höheren Strafen verurteilt. Wegen Zersetzung der Wehrkraft erhob Filbinger sechs Mal Anklage.

Fünf Beispiele aus dem Jahr 1945:
2. Februar:
zwei Soldaten angeklagt, ausländische Sender gehört und defätistische Äußerungen gemacht zu haben (6 Monate)
9. Februar: ein Matrose, der sich absichtlich in den eigenen Fuß geschossen haben soll (5 Jahre Zuchthaus)
16. März: Verlesung des Todesurteils gegen Walter Gröger wegen versuchter Fahnenflucht durch Filbinger, Vollstreckung des Urteils in Anwesenheit Filbingers
25. April: Verfahren gegen Korvettenkapitän Adolf Prößdorf wegen Verständnis für die Attentäter vom 20. Juli und Defätismus (Filbinger beantragte 2 Wochen Stubenarrest)
1. Juni: vier Wochen nach Kriegsende Verurteilung des Oberleutnants Petzold wegen Entfernens von der Truppe zu 13 Monaten Gefängnis (in Internierung).
Nach Ricarda Berthold und Heinz Hürten in »Filbinger - eine deutsche Karriere«, hg. von Wolfram Wette (Zu Klampen)
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