nd-aktuell.de / 21.03.2018 / Kultur / Seite 14

Er hat Zeit, wir nicht

Wozu braucht man einen Peter Hacks? Zum 90. Geburtstag des abwesenden Dichters

Felix Bartels

Über den sollte Raoul Peck mal einen Film machen, sage ich in einem jener Momente, in denen es schon aus Gründen der Uhrzeit bloß noch um die Punchline geht. »Le jeune Hacks«, da klingelt was. Saxophon in Schwabing, Party in der Berliner »Möwe«, Sex, Cognac, Verbote durch Adenauer und Ulbricht. Während der Abspann läuft, darf geweint werden: Was ist bloß aus dem Mann geworden?

Gar nichts ist geworden. Salon und Bolschewismus waren immer schon die zwei Quellen und Bestandteile des Peter Hacks. Es änderten sich Vokabular, Leseerfahrung, Grad der Zufriedenheit, nicht änderte sich die Haltung. Der junge Hacks trug dasselbe leninistische Feuer in sich wie der alte, die Einsicht, dass Politik ohne Macht unmöglich sei, und darüber legte sich auch bei ihm schon dieselbe, teils konservative, teils liberale Kühle. Das will etwas ausdrücken. Der Welt ist mit bloß einer Haltung nicht beizukommen. »Klassiker sind nie einseitig, außer man legt sie um.«

Das Unbehagen an Hacks dürfte dort seinen Anfang genommen haben. In einer Kränkung. Er brachte zusammen, was nicht zusammen sein darf, und war damit für keine der vorhandenen Parteiungen leicht zuzuordnen; nicht ganz Feind den einen, nicht ganz Freund den andern. Sie lieben das nicht, die stets Klaren. Wie der Müllmann Karsunke in »Meta Morfoß« ziehen sie selbst den äußersten Feind noch einem komplizierten Freund vor.

Biographische Umstände - Beifall für den Mauerbau, Biermann-Artikel, Jetztzeit-Gedichte usw. - mögen dies Unbehagen verstärkt, teils gar erst bewusst gemacht haben, doch sie fielen auf einen ohnehin fruchtbaren Boden. Keinem Dichter haben politische Bekenntnisse so geschadet wie Peter Hacks. Irgendwann holte man sie alle zurück, die Salonbolschewisten, deren Größe sich nicht leugnen lässt. Den Mann, den Feuchtwanger, den Brecht. Ich vermute, Hacks wird noch sehr lange abwesend bleiben.

Natürlich kommt er vor, auf dem Theater, in den Buchläden, und bei schlechtem Wetter sogar in der Zeitung. »Es ist schwer, so gut geschrieben zu haben und gar nicht bemerkt zu werden.« (Das Zitat ist gefälscht, er sagte »so viel« statt »so gut«.) Doch selbst im Vorhandensein wird Hacks den Anruch des Todgeweihten nicht los. Man lässt ihn mit der Bemerkung aufleben, dass er nicht mehr lebe, behandelt ihn als Unbehandelten. Das gilt für die, die ihn zurückholen wollen, ebenso wie für die, die ihn gern in der Versenkung sehen. Die quälende Frage, ob man so einen heute noch lesen dürfe, und der Versuch, so einen in eine »Gegenkultur« zu implantieren, sind zwei Seiten derselben Journaille.

Die Kränkung war eine Zündung, die Skandal-Ökonomie ein Beschleuniger, doch was die Sache am Brennen hält, ist noch etwas anderes. Einer muss es ja sagen: Wenn Leute von heute finden, dass Hacks ihnen nicht weiterhilft, haben sie vollkommen recht, und da ich nicht bis zur 100 warten will, scheint mir der 90. Geburtstag ein guter Vorwand, diesen Gedanken ein wenig zu entfalten.

Ich erinnere, was mich persönlich auf Hacks gebracht hat, jenseits des Kinderzimmers, wo er natürlich mit »Flohmarkt« und »Kinderkurzweil« ebenso zum Inventar gehörte wie »Mimmelitt« und die »Geschichte der KPdSU(B)«. Es hatte etwas mit Stolz und Souveränität zu tun. Kaum noch rekonstruierbar scheint heute, welchen Grad an Demut und Selbstverleugnung die ersten Jahre der Neunziger den Menschen abgefordert haben. Auf den Stichtag mussten sie umlernen und diese Anpassung als selbstbewegte Einsicht verkaufen. Seit die Wirtschaftskrise 2008 und die geopolitische Dauerkrise (von Al-Qaida bis Erdoğan) das Selbstvertrauen der Öffentlichkeit erschüttert haben, gehört die Rede vom Ende des Kapitalismus wieder zum guten Ton. Anfang der Neunziger war es das Unaussprechliche.

In meinem Elternhaus wurde es dennoch ausgesprochen, und ich habe daher fast die gesamte Welt da draußen als opportunistische erlebt. Hacks war dagegen insofern ein Ereignis, als in ihm das, was im Feuilleton »unbelehrbar« heißt, tatsächlich nichts anderes ist als die Setzung menschlicher Souveränität gegen gesellschaftliche Konventionen. Keine Asche aufs Haupt, keine Unterwerfung, nur die Entschlossenheit, das einmal Erkannte auch dann noch für richtig zu halten, wenn eine ganze Umwelt davon abrückt.

Dieser Strenge gesellte sich auf der Haltungsebene ein gegenläufiges Moment hinzu. Hacksens Neigung zu dem, was er »gekrümmte Formen der Wahrheit« nennt, faszinierte mich gleichfalls. Sein spielerisches Verhältnis zu Paradoxien, zum Vertrackten, sein Bedürfnis, scheinbar Widerstrebendes in logische Ordnung zu bringen, seine Freude an Provokation, Distinktion, Übertreibung und Concetto. Die Vorliebe für doppelte Böden unterscheidet das »unbelehrbare« Genie von einem, dessen Standhaftigkeit sich tatsächlich bloß aus seiner chronischen Taubheit gegen äußerliche Einflüsse ergibt.

Es ist also das Beieinander von Spiel und Ziel, das den Dichter Hacks interessant und ausmacht. Und dieses Verhältnis wurde zugleich Bedingung und innerer Mechanismus seiner Kunst wie seines politischen Denkens.

Es will mir jetzt weniger um die hohe Form gehen, die einfach unter die Begabungsfrage fällt. Keiner kann mehr, als er kann, und Hacks war in allen vier Genres groß. In Essay und Lyrik ohnehin, doch auch in der Epik, bei ihm stets als Märchen, wo er in seinen besten Momenten so gut war wie Goethe, Hoffmann und Tieck in ihren besten Momenten. Im Drama machen ihn Vers, poetische Sprache und Philosophie stark, während die Fabeln meist einfach, doch gut organisiert sind. Es gab geschicktere Dramaturgen; dem Shakespeare kommt er nicht bei, so wenig wie der dem Michael Frayn. Hacks kannte den Zusammenhang: »Das Ästhetische und das Vergnügliche werden sich nie ganz decken.« Spiel und Ziel müssen lernen zu teilen.

Die Poesie wollte er autonom, doch nicht als Selbstzweck. Die Verständnisfrage war unverhandelbar: »Ich mag keine aleatorischen Effekte in der Literatur. Literatur soll ihre unendliche Vieldeutigkeit haben, nachdem sie ihre Eindeutigkeit gehabt hat und indem sie ihre Eindeutigkeit hat.« Keines seiner Werke hätte er schreiben können, ohne ein unverrückbares politisches oder sittliches Ziel vor Augen und eine Bereitschaft, auf die greifbaren Kunstmittel auch zuzugreifen. »Ein Klassiker ist einer, der auf den Schultern seiner Vorgänger und selbst seiner Gegner zu stehen vermag.« Die Weite verschafft der Dichtung Möglichkeiten, die Strenge gibt ihr eine Richtung. Ohne Strenge ist sie bloß Klassizismus, ohne Weite bloß engagierte Literatur.

Auch im politischen Denken, sage ich. Tatsächlich ist Hacks einer der raren Denker, die überhaupt erst mal so etwas wie einen Begriff des Sozialismus entwickelt haben. Seine Überlegungen stehen als erster Versuch in der Landschaft, sozialistische Gesellschaft als lebendige, in sich widersprüchliche Struktur zu fassen, ohne ihr aus diesen Windungen einen Galgenstrick zu drehen. Für Hacks konnten sterile Begriffe wie Revolution oder Diktatur des Proletariats nicht infrage kommen, da sie in sich keine Entfaltung dulden. Der Anschluss an Ulbrichts Modell des »Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung« ist daher kein Zufall; in ihm zeigt sich das nämliche Beieinander von Ziel und Spiel, Strenge und Weite. Die Vermittlung von Plan und Markt, die Aufnahme bürgerlicher Elemente in die vergesellschaftete Produktionsweise, ist kein kollateraler Vorgang, sondern das, was Hacks gerade schätzte und als »unreinen Sozialismus« lobte.

Und wozu nun braucht man einen Hacks? Tatsächlich hat er zu den Problemen des späten Kapitalismus so gut wie nichts beizutragen. Selbst seine strategischen Überlegungen zur Wiedergewinnung des Sozialismus sind bestenfalls rührend. »Der gesellschaftliche Raum meiner ästhetischen Entwürfe ist die DDR. Ich bin schnell zu langweilen; mich hat immer gelangweilt, über den Imperialismus zu schreiben.« Das ist wahrer, als ihm lieb sein konnte. Hacks ist ein Relikt aus der Zukunft. Sein Denken, seine Kunst sind genuine Elemente eines entfalteten Sozialismus. Man kann ihn heute genießen, gewiss schon auch einiges an ihm verstehen, doch wer seinen Gedanken nicht wenigstens etwas Schwung über das Bestehende hinaus zu geben bereit ist und Sozialismus stets nur als Vergangenheit fassen kann, dem wird, dem muss Hacks fremd bleiben.

Eben das aber, dass er nichts beizutragen hat zu den dringlichen Fragen der Jetztzeit, macht Hacks wertvoll. Befasst mit Fragen, die viel interessanter sind als der Käse, der uns beschäftigt hält, beackert er ein Feld, das andernfalls einfach brachläge. Nicht dies also wäre die Frage, ob er uns noch was geben könne, sondern die, wann wir wieder reif sind für ihn. Er hat Zeit, wir nicht.

Peter Hacks: Marxistische Hinsichten. Poltische Schriften 1955 - 2003. Hrsg. v. Peter Hamm, 608 S., geb., 19,99 €. Soeben erschienen im Eulenspiegel-Verlag.