nd-aktuell.de / 24.03.2018 / Kultur / Seite 16

Dürstend nach Wasser, Brot - und Musik

»MaerzMusik - Festival für Zeitfragen«: Werke von Johannes Schöllhorn und Georges Aperghis uraufgeführt

Stefan Amzoll

Zeit ist eine spekulative Kategorie. An der Börse ist jede Millisekunde wichtig. Zeit und Zeitabläufe, gerechnet in Impulsen, Metren, Takten, Tempi, gehören zur materiellen Natur der Musik. Lediglich ihre je nach Stück und dessen Gliederung differente Dauer wirft Fragen auf. Bachs Werke zu spielen, basiert auf gefühlter, dem Barockzeitalter abgelauschter Zeit und einem Verständnis der Bach-Tradition, einem Zeitbewusstsein der Gegenwart, was immer das sei, Genüge zu tun. Beethoven konnte schon genauere Festlegungen treffen. Das Metronom, von Johann Nepomuk Mälzel seinerzeit entwickelt, kam ihm zuhilfe. Was die »MaerzMusik« mit »Zeitfragen« meint, ist etwas völlig anderes. Pointiert gesprochen, begründet sie etwa, warum ein Stück vier Stunden lang ist und nichts sagt oder nur eine Minute und gleichfalls nichts sagt. Woran sich die tollkühnsten Überlegungen knüpfen. Selten führt das Festival von dem engen Begriff Zeit weg hin zu der Zeit, die alle angeht. Was geschieht heute? Musik als Spiegel von Geschehen in der Zeit. Das Projekt »Migrants« ist ein außerordentliches Beispiel hierfür.

Es verbindet das neue dreisätzige Stück »Migrants« von Georges Aperghis mit einer neuen Orchestration von Leoš Janáčeks »Tagebuch eines Verschollenen«, die Johannes Schöllhorn besorgte. In beiden Stücken, so im Programmheft zu lesen, wird das Verschwinden von Menschen zum Thema: einerseits in Georges Aperghis’ Stück, das das Schicksal lebender und toter Migranten heute, vermittelt durch Texte aus Joseph Conrads »Herz der Finsternis«, behandelt, andererseits in der Geschichte der Figur des Janek in Leoš Janáčeks Stück, der seine bäuerliche Welt verlässt, um in eine nomadischen Existenz überzutreten, und für die bisherige Welt verschwindet. Beide Stücke basieren auf ähnlichen Besetzungen: zwei Sängerinnen, Streichergruppe, Klavier, Harfe (bei Schöllhorn) und Schlagzeug. Keine Bläser, weder Holz noch Blech. »Migrants« rebelliert. Es steht poetisch wider diejenigen, die versuchen, eine Welt abzuschotten, welche sie als die eigene unwiderrufliche, unzerstörbare ansehen und als hell und heil und fruchtbringend empfinden. Es begehrt klanglich auf, wider solche, die es nicht kümmert, wer da durch Kriege, Landraub und Industrialisierung in Not geraten ist und auf unwegsamen Bahnen zieht und vor festgepflockten Grenzen halt machen muss, von Polizeikräften zurückgestoßen, um von Neuem die Odyssee anzutreten, die kein selbst erkorenes Ziel kennt. Scheiß was, so die neoliberale Gesittung, auf die Menschen mit schmerzverzerrten Gesichtern, erschöpft, nahe am Tode, dürstend nach Wasser und Brot. »Nicht nur den ertrunkenen Körpern ein Gesicht geben, die an Europas Küsten angespült werden, sondern auch der großen Zahl der Lebenden, die ohne Identität durch Europa irren, ohne offiziell als lebendig anerkannt zu werden.« Die Zeilen schrieb Georges Aperghis zu dem Projekt, das jetzt im Kammermusiksaal der Philharmonie als einheitlicher Block zur Uraufführung kam.

Der Grieche, 1945 geboren, aufgewachsen in einer Künstlerfamilie, gehörte während der Juntazeit im Land zu denen, die selbst eine Art Vertreibung erfahren haben. 1963 entschied er sich, nach Paris zu gehen, wo er seither lebt und arbeitet. Es entstanden mehr als 100 Werke für die unterschiedlichsten Besetzungen.

Beide Stücke ergänzen sich inhaltlich. Bei Aperghis kommen die Gesänge der Geflüchteten und Wendungen aus Joseph Conrads Roman in Englisch. Hart, emotional ans Äußerste gehend die Klangsprache. Jeder einzelne Spieler ist mit Soloaufgaben betraut. Peitschenklänge sausen aus den Streicherparts. Das Schlagzeug im Hintergrund besteht aus wenigen Geophonen (Metalltrommeln mit Steinen in ihrem Korpus). Es schien, als erzeugten sie bei kreisender Bewegung einen ähnlichen Klang wie die Brandung an steinigen Stränden. So jedenfalls intendierte es Georges Asperghis. Geräusche als Symbol für das Meer, über das Tausende, aus Afrika kommend, fliehen. »Es ist, als würde das Meer sprechen.«

Gegen Ende des Ersten Weltkriegs entstand Janáčeks Komposition. Viele Tschechen emigrierten (vor allem in die USA). Sein Tagebuch enthält eine Liebesgeschichte. Betrachtet aus sozialer Perspektive, birst sie vor Tränen und Unglück, sodass die vielteilige Komposition ganz unromantisch daherkommt. Angst und Zweifel plagen den jungen Mann Janek, von dessen Warte aus erzählt wird. Extrem düstere Farben wechseln mit aufgelichteten Fakturen ab. In langsamen Teilen ergeben Marimba, Klavier und Harfe die sonderbarsten Mixturen. Zentral freilich die anrührend zärtlichen, schreiend rebellischen Gesänge der Agata Zubel (Sopran) und Christina Daletska (Mezzosopran), begleitet vom Ensemble Resonanz unter dem hochengagierten Emilio Pomàrico.

Eindrucksvoll, technisch hochstehend die 80-minütige Wiedergabe der beiden attacca gespielten Werke. Keine Sekunde erlahmte im gut gefüllten Saal die Aufmerksamkeit. Das Publikum dankte voll Bewunderung den Interpreten wie den beiden anwesenden Komponisten. Die »MaerzMusik« mit einem zeitnahen, hochwichtigen Abend. Alle Achtung, und vor allem: Weiter so.