nd-aktuell.de / 03.04.2018 / Kommentare / Seite 18

»Es gibt zu wenig Solidarität«

Der Einsatz der Finanzmittel der Europäischen Union entscheidet wesentlich über derer Charakter

Martina Michels und Nora Schüttpelz

Für uns LINKE ist das soziale Europa der erste und wichtigste Teil der Antwort auf die Frage, was die EU in Zukunft tun muss und was sie sein soll. Die vergangene Dekade war von Krisen geprägt: sozialen, wirtschaftlichen, Finanz- und Schuldenkrisen, sich häufenden humanitären Katastrophen, Kriegs- und Konfliktszenarien, Umweltkatastrophen aufgrund des Klimawandels, sprunghaftem und anhaltendem Anstieg von Arbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung.

Die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten wie auch die EU-Kommission haben darauf bislang vor allem eine Antwort: Sparzwang, Austeritätspolitik. Doch es gibt nicht zu wenig Geld in Europa. Es gibt vor allem zu wenig Solidarität. Und tatsächlich soll nach dem Willen der Regierungen auch mehr Geld ausgegeben werden - nämlich für sogenannte neue Herausforderungen im Bereich Sicherheit, Verteidigung, Migration, Grenzkontrolle und makroökonomische Stabilität. Vor allem Mitgliedstaaten, die besonders vom EU-Binnenmarkt profitieren, sind zugleich wenig geneigt, ihren Beitrag zum Haushalt entsprechend anzuheben. Die EU-Kommission passte sich zunächst recht bereitwillig an die falsche Priorisierung an und gab die Parole »mehr mit weniger erreichen« aus. Doch selbst sie hatte irgendwann begriffen: »Sehr viel mehr mit deutlich weniger«, das kann nicht funktionieren, und präsentierte die inzwischen viel zitierten Szenarien wie das Reflexionspapier über die Zukunft der EU oder die Mitteilung zum mehrjährigen Finanzplan, von denen nur die wenigsten und unwahrscheinlichsten eine EU-Solidaritätspolitik mindestens im heutigen Sinne zulassen.

Mit dem nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) wird sich entscheiden, ob beispielsweise die Regionen mit mittlerer Wirtschaftskraft nach 2020 noch Strukturfonds-Gelder erhalten werden. Betroffen sind alle ostdeutschen und einige westdeutsche Regionen ebenso wie französische, tschechische, griechische, spanische, italienische ... Regionen. DIE LINKE. fordert die Beibehaltung und Stärkung der solidarischen Regional- und Förderpolitiken, die den Bürgerinnen und Bürgern unmittelbar zugutekommen, grenzübergreifenden Austausch und friedliches Zusammenleben begünstigen und das Ziel der Angleichung und Verbesserung der Lebensverhältnisse überall in der EU ins Zentrum stellen.

Es handelt sich dabei nicht um freiwillige Zugeständnisse, sondern vertraglich zwischen den Mitgliedstaaten vereinbarte Ziele. Wie auch der jüngste, der siebente Kohäsionsbericht zeigt, wird die europäische Regional- und Förderpolitik in mindestens dem aktuellen Umfang unabdingbar bleiben, um weiteres soziales und wirtschaftliches Auseinanderdriften zwischen und innerhalb der Regionen aufzuhalten. Die Mitgliedstaaten schaffen es eben nicht, die Angleichung der Lebensverhältnisse wirksam zu befördern. Das hat zum Teil wirtschaftliche Gründe. Doch auch in reichen Ländern wie Deutschland mit den ostdeutschen Ländern oder Großbritannien mit Wales und Nordirland ist unübersehbar: solidarische Umverteilung steht keineswegs weit oben auf der To-Do-Liste nationaler Regierungen. Die europäische Regional- und Strukturpolitik kann nicht alle damit verbundenen Probleme lösen. Doch verbindet sie die nationale, kommunale, regionale und die EU-Politik. Sie kann verdeutlichen, dass es in Europa um Solidarität, Kooperation, konkrete Dienste für jeden und jede vor Ort geht.

Um zugleich zusätzlichen Herausforderungen des Klimawandels und der Globalisierung einschließlich des Anspruchs der Integrationsfähigkeit in einer offenen Gesellschaft gerecht zu werden, ist die Aufstockung des EU-Haushalts auf mindestens 1,3 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) in der EU unumgänglich. Die jahrelange Kürzungspolitik der Regierungschefs und der Wegfall eines wichtigen Beitragszahlers könnten und müssen als Gelegenheit der Einführung neuer EU-Finanzierungsquellen und zur Beendigung von Rabatten genutzt werden. EU-gestütztes Beschaffungswesen und Forschungsprojekte für Rüstungs- und Grenzabschottungspolitik lehnen wir ab.

Die dem Europaparlament vorliegende Stellungnahme des Haushaltsausschusses »über den nächsten MFR: Vorbereitung des Standpunkts des Parlaments zum MFR nach 2020« enthält viele richtige Forderungen: So wird als klare Prämisse formuliert, dass auch der nächste Haushaltsplan »auf Maßnahmen und Prioritäten der EU aufbauen sollte, mit denen der Frieden, die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und die Gleichstellung der Geschlechter ebenso gefördert werden sollen wie das Gemeinwohl, ein langfristiges und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Forschung und Innovation, eine hochwertige Beschäftigung, die mit menschenwürdigen Arbeitsplätzen einhergeht, die Bekämpfung des Klimawandels, der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten und Bürgern.« Ganz konkret stellt das Europaparlament den Anspruch, die derzeitige Mittelausstattung traditioneller Bereiche wie der Landwirtschafts-, Fischerei- und Kohäsionspolitik beizubehalten. Deutliche Mittelaufstockungen werden für Forschungsunterstützungsprogramme wie Horizon2020 (Verdopplung), Erasmus+ (Verdreifachung), die Beschäftigungsinitiative für junge Menschen (Verdopplung) und die Unterstützung von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) im Rahmen des Programms COSME (Verdopplung) gefordert. Doch zugleich sprechen inzwischen auch viele Befürworter dieser Förderprogramme zunehmend davon, dass diese zu »Vorteilen durch mehr Wettbewerbsfähigkeit in und durch den EU-Binnenmarkt« führen sollen und müssen. Effizienz und quantitative Messbarkeit von Politikergebnissen entwickeln sich zum Mantra. Und während der bisherige Neoliberalismus, traurig genug, Wettbewerb und Marktfreiheit ins Zentrum der Dinge stellte, soll nun vieles auch noch in den Dienst von Sicherheit und Verteidigung gestellt werden.

Dabei ist es - glücklicherweise noch - gar nicht so, dass die Mehrheit der EU-Bürgerinnen und -Bürger sich so ängstlich und unsicher fühlt. Schaut man sich die entsprechenden Umfragen von Eurostat an, ergibt sich ein ganz anderes Bild: Die meisten wünschen sich, dass EU-Mittel in öffentliche Gesundheitsdienste fließen, dicht gefolgt von den Bereichen Arbeit und soziale Angelegenheiten und Bildung, Ausbildung, Kultur und Medien. Auch Investitionen in Wirtschaftswachstum und Klima- und Umweltschutz liegen höher in der Wertung als Verteidigung und Sicherheit.

Die Linke in Europa steht für die finanzielle Stärkung derjenigen EU-Politiken, die dabei helfen, das Leben von Menschen zu verbessern - innerhalb und außerhalb der EU. Es geht um diejenigen Programme, die einen Beitrag zur Angleichung und Verbesserung der Lebensverhältnisse leisten, die angeschlagenen Wohlfahrtssysteme ergänzen, die Schaffung guter Ausbildungs- und Arbeitsplätze unterstützen, nachhaltige Investitionen in öffentliche Dienste, Gesundheitswesen, Bildung, Kultur und auch die Entwicklungshilfe und kooperative Nachbarschaftspolitik befördern. Wir stellen EU-Investitionsvorhaben in Sicherheits- und Verteidigungsforschung und -beschaffungswesen konsequent infrage, keinesfalls dürfen dafür Ressourcen aus den oben genannten Bereichen abgezogen werden.

Ein Haushalt, noch viel mehr ein langfristiger Haushaltsrahmen, ist keineswegs vor allem eine Geldfrage. Es geht um ein politisches Projekt, das Projekt des künftigen Europa. Dazu einige Hintergründe. Mehr als 94 Prozent des EU-Haushaltes kommen den Bürgerinnen und -Bürgern, Regionen, Kommunen, Landwirten und Unternehmen zugute. Die Verwaltungsausgaben der EU machen weniger als 6 Prozent des EU-Haushaltes aus; etwa die Hälfte davon entfällt auf Löhne und Gehälter der Beschäftigten. (Quelle: EU-Kommission).

Der aktuelle MFR hat eine Laufzeit von sieben Jahre, 2014 bis 2020. Vertraglich vorgeschrieben ist eine Mindestlaufzeit von fünf Jahren. Diskutiert wird auch die Möglichkeit einer 10-Jahresperspektive mit Halbzeitüberarbeitung (»5+5«). Damit wäre einerseits langfristige Planbarkeit sichergestellt, andererseits Flexibilität gegenüber aktuellen Entwicklungen erleichtert und zudem garantiert, dass jedes neu gewählte EU-Parlament seine Prioritäten auch in finanzieller Hinsicht mitbestimmen kann.

Das Plenum des Europäischen Parlaments wird auch über den Bericht des Haushaltsauschusses zu einer Reform des sogenannten Eigenmittelsystems auf der Einnahmeseite des EU-Haushalts abstimmen. Als zusätzliche Einnahmemöglichkeiten kämen überarbeitete Mehrwertsteuer-Eigenmittel infrage, ein Anteil der Einnahmen aus der Körperschaftsteuer, Einkünfte der Zentralbank aus der Geldausgabe, eine Finanztransaktionssteuer, Besteuerung der digitalen Wirtschaft oder auch Umweltsteuern z. B. auf nicht recycelbare Kunststoffe und eine CO2-Steuer.

Derzeit gibt es drei Arten von Eigenmitteln: die »traditionelle Eigenmittel«, bestehend aus Zöllen und Zuckerabgaben (20,1 Milliarden Euro im Jahr 2016 bzw. 14 Prozent der Einnahmen), Eigenmittel in Höhe eines Prozentsatzes der geschätzten Mehrwertsteuereinnahmen der Mitgliedstaaten (15,9 Milliarden Euro im Jahr 2016 bzw. 11,1 Prozent) sowie Eigenmittel, die auf einem Prozentsatz des Bruttonationaleinkommens (BNE) der Mitgliedstaaten basieren (95,6 Milliarden Euro im Jahr 2016 bzw. 66,6 Prozent).

Einige Mitgliedstaaten haben in der Vergangenheit Anspruch auf einen »Rabatt« bzw. einen Nachlass ausgehandelt. Der Haushalt wird zusätzlich durch Einnahmen aus sonstigen Quellen gespeist, z. B. Steuern auf die Gehälter der EU-Bediensteten, Beiträge von Nicht-EU-Ländern zu bestimmten Programmen, Geldbußen, die Unternehmen bei Wettbewerbsverstößen usw. auferlegt werden.

Die beiden vorgestellten Berichte stellen zentrale Beiträge des Europäischen Parlaments zu den Legislativvorschlägen der Kommission dar, die am 2. Mai 2018 vorgelegt werden sollen. Damit der Mehrjährige Finanzrahmen in Kraft treten kann, muss er einstimmig im Rat und im Europäischen Parlament von einer Mehrheit angenommen werden. Die Abgeordneten zielen darauf ab, ein endgültiges Übereinkommen noch vor der Europawahl im Jahr 2019 zu schaffen.

Ebenfalls ab April/Mai werden von der EU-Kommission um die 40 Vorschläge zu den Gesetzesvorschlägen über einzelnen EU-Finanzierungs- und Förderprogramme erwartet. Dazu gehört unter anderem das Paket über die EU-Struktur- und Investitionsfonds.