nd-aktuell.de / 04.04.2018 / Kultur / Seite 12

Balance aus neu und verschwunden

Es war bitterkalt, es gab Korn und Erbsensuppe, die Gäste waren illuster. Künstler wie Edward Kienholz und Christo kamen, als im Januar 1977 an der Berliner Kurfürstenstraße ein riesiges Wandgemälde von Eduardo Paolozzi eingeweiht wurde. Der Pop-Art-Pionier hatte für die 990 Quadratmeter große Fläche eine Schwarz-Weiß-Malerei mit Maschinenteilen entworfen. Später verschwand das Bild für Jahre hinter einem Bankgebäude. Nach dem Abriss des Bankhauses ist es kürzlich in Teilen wieder aufgetaucht. Man kann das Bild von einigen Dächern nahe dem Berliner Zoo sehen. Die Malerei ist ausgerechnet dann wieder sichtbar geworden, während eine Ausstellung den 2005 verstorbenen schottischen Künstler würdigt.

Paolozzi hat in den 70er Jahren als Stipendiat ein produktives Jahr in West-Berlin verbracht, mit Atelier samt Tischtennisplatte nahe dem Kottbusser Tor. Im Katalogtext heißt es noch, die Malerei in der Kurfürstenstraße sei nicht erhalten. In Berlin wird wie in vielen deutschen Städten gerade viel gebaut. Das verändert auch die Kunst auf den Fassaden. Neue Bilder kommen, so wie vor ein paar Jahren das kilometerlange »Friedrichsfelder Triptychon« auf Hochhäusern im Osten. Anderes verschwindet. So wie das älteste Berliner Fassadengemälde, der »Weltbaum« von Ben Wagin am S-Bahnhof Tiergarten. Der riesige, verblichene Baum mit den kahlen Ästen aus dem Jahr 1975 ist ein Kind seiner Zeit, als die Umweltzerstörung ein Thema wurde. Heute steht dort ein Bauzaun. Ein Plakat verspricht: »Work-Life-Balance. Arbeiten im grünen Herzen Berlins«.

Fassadenkunst und kunstvolle Graffiti, das ist kein Berliner Phänomen. In Köln kennt man etwa das »Tödlein«, das Harald Naegeli, der »Sprayer von Zürich«, auf die Cäcilienkirche gesprüht hat. In Frankfurt-Niederrad gibt es ein eindrucksvolles Bild gegen Rassismus: Es zeigt auf einer ganzen Hauswand das Gesicht des früheren Eintracht-Stars Anthony Yeboah. München hat wie Berlin ein eigenes Museum für diese Kunstform, Urban Art und Street Art, das MUCA. Museumsgründerin Stephanie Utz kennt die Folgen der Gentrifizierung. Aber mittlerweile habe sich die Zwischennutzung von Flächen etabliert, das Nachdenken, bevor die Abrissbirne kommt. »Man versucht, das intelligenter zu lösen«, sagt Utz.

In Berlin sind die vielen fensterlosen Brandmauern ein echtes Phänomen. Früher tobten sich vom Senat beauftragte Künstler oder Hausbesetzer darauf aus. Heute sind es Street-Art-Künstler aus aller Welt. Kenner der Szene ist der Rentner Norbert Martins, der in 43 Jahren rund 800 Giebelbilder fotografiert hat. Ein Drittel sei weg, schätzt Martins. Der 71-Jährige hat Bücher zum Thema veröffentlicht und bietet Führungen an. dpa/nd