Noch ist die Stimmung gedrückt: Zwei Minuten lang ist am Mittwochmorgen um exakt 11.00 Uhr der markerschütternde Ton der Luftsirenen ertönt, hatte alles, Verkehr, Radio, Fernsehen und viele Menschen zum Stillstand gebracht, im Gedenken an insgesamt 23 646 Israelis, die seit 1948 in Kriegen und bei Anschlägen getötet wurden. Als dann am Abend die Sonne unterging, verwandelten sich vielerorts die Straßen von einer Minute auf die andere in ein Gewühl aus feiernden Menschen und lauter Musik.
Denn mit dem Abend hat in Israel der 70. israelische Unabhängigkeitstag begonnen - eine verwirrende Sache, weil Staatsgründer David Ben Gurion am 14. Mai um 16 Uhr mit der 16-minütigen Verlesung der Unabhängigkeitserklärung begonnen hatte. Dass die Daten des offiziellen Feiertages und des historischen Kalenders voneinander abweichen, liegt daran, dass in Israel auch die säkularen Feiertage nach dem jüdischen Kalender festgelegt werden. Der Jom Ha‘atzma‘ut, wie der Unabhängigkeitstag auf Hebräisch heißt, findet also immer am 5. Ijar statt, der aber durch den gregorianischen Kalender wandert, weil die Länge der Tage nicht auf 24 Stunden festgelegt ist, und regelmäßig Schaltmonate eingefügt werden.
Doch schon zur Zeit der Staatsgründung lebten nur wenige Israelis nach dem jüdischen Kalender; abgesehen davon, dass die Woche am Sonntag beginnt, richtet sich der Alltag auch in Israel nach dem westlichen Kalendersystem. Dass man sich Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre dennoch dafür entschied, die säkularen Feiertage nach dem jüdischen Kalender auszurichten, hatte vor allem politische Gründe: Ministerpräsident Ben Gurions erste Regierung war auf religiöse Parteien angewiesen, die auf eine starke Bindung an jüdische Werte drangen.
Zum anderen sollten die säkularen Feier- und Gedenktage in das System der religiösen Feiertage integriert werden, um einen gemeinsamen Narrativ zu schaffen. So folgen auf die Pessach-Tage, an denen des jüdischen Volkes Flucht aus Ägypten gedacht wird, der Holocaust-Gedenktag und der Gedenktag für die Gefallenen, bevor dann die Unabhängigkeit Israels gefeiert wird - allerdings nicht von allen: Viele ultra-orthodoxe Juden lehnen den Staat Israel aus religiösen Gründen ab, und die allermeisten Araber, die etwa 20 Prozent der israelischen Staatsbürger ausmachen, erinnert der Jahrestag der Staatsgründung in leiser Trauer vor allem an Flucht und Vertreibung.
Doch zum 70. Unabhängigkeitstag ist Israels Regierung nun betont bemüht, Politik aus den offiziellen Zeremonien herauszuhalten; man befürchtet, dass Proteste die Feiern überschatten könnten. Denn neben den USA wollen auch mehrere lateinamerikanische Staaten den Jahrestag nach dem westlichen Kalender nutzen, um ihre Botschaften nach Jerusalem zu verlegen; Vorhaben, die bei Palästinensern aber auch israelischen Linken auf Widerstand stoßen.
Diese Kritik hatte auch dazu geführt, dass Juan Orlando Hernández, Präsident von Honduras, der während der offiziellen Zeremonie auf dem Herzl-Berg eine Kerze hatte entzünden sollen, seine Reise absagte; er wolle nichts tun, um die Feiern zu stören.