nd-aktuell.de / 23.04.2018 / Politik / Seite 10

Der unbekannte Vordenker

Eduard Bernstein, die Irrtümer von Sozialisten und die Programmdebatte der frühen PDS

Tom Strohschneider

Das Internet ist eine große Fundgrube, aber sie hat Löcher. Über die PDS heißt es bei Wikipedia zum Beispiel, der Partei »gelang 1993 mit der Verabschiedung eines ersten Parteiprogramms eine gewisse Konsolidierung«. Hier soll nicht die Bewertung infrage gestellt, sondern eine Tatsache korrigiert werden: Natürlich hatte die PDS auch vorher schon ein Programm und dies war selbstverständlich auch nicht mehr das alte der SED. Beschlossen wurde dieses erste Programm auf dem Wahlparteitag der PDS am 24. und 25. Februar 1990. Und es ist auch das bisher einzige Programm dieser Partei und ihrer Nachfolgerinnen, in dem der Name Eduard Bernstein auftaucht.

Zu der damaligen Debatte hat Sebastian Prinz in seiner Studie über die Wegsuche der Partei zwischen »Kontinuität und Wandel« ganz richtig angemerkt, dass das Programm in unmittelbarer Folge der Umbruchmonate nur ein Provisorium sein konnte. Noch gab es die DDR, deren Ende war aber bereits dem weiteren Verlauf der Wende aufgeprägt. Und auch die Zeit war nicht eben großzügig bemessen, in der zwischen Winter 1989 und den bevorstehenden Wahlen vom März 1990 »eine gründliche Reflexion der noch nicht abgeschlossenen Wende« hätte stattfinden können. Geschweige denn eine ausführliche Neuorientierung hin zu einer demokratisch-sozialistischen Partei.

In der unmittelbaren Wendezeit hatte es von verschiedener Seite im PDS-Umfeld einige Hinweise auf Eduard Bernstein gegeben. Dies geschah vor allem in selbstkritischer und die Geschichte der DDR-Verzerrung Bernsteins aufarbeitender Weise. Es hatte aber teils auch eine programmatische Ebene - Anfang Januar etwa meldete sich im »Neuen Deutschland« ein »Sozialdemokratischer Studienkreis« zu Wort, der sich am 140. Geburtstag Bernsteins gegründet hatte. Es sei an der Zeit, hieß es da, »die Arbeiten der sozialdemokratischen - und austromarxistischen - Klassiker vorurteilslos zu studieren, ihre Ergebnisse als Errungenschaften sozialistischen Denkens zu beurteilen und ihre Fehler als Irrtümer von Sozialisten zu kritisieren«. Auch sollte die PDS, so der Studienkreis, »anstatt großer utopischer Endziele endlich wieder die Bewegung der Gesellschaft, den sozialen Fortschritt und die Mittel zu seiner Verwirklichung in den Blick« nehmen.

Schon auf dem Sonderparteitag der SED im Dezember 1989 war der Name Bernstein gefallen - in einem Redebeitrag von Dieter Klein, einem der maßgeblichen Programmautoren der PDS. Klein sprach über die Frage des Traditionsbezuges, der in linken Programmen eine wichtige Rolle spielt, gab aber auch zu erkennen, dass es in der in Wandlung befindlichen SED viele gab, die sich fragten, was die Partei denn mit Bernstein zu tun habe, dem jahrzehntelang als »Oberrevisionisten« und Marx-Verräter gezeichneten Theoretiker. Klein hatte auf dem Sonderparteitag vor einer Fortsetzung dieser Denkverbote gewarnt, es sei gerade »die Einigung auf wenige Traditionen« gewesen, mit der sich ein Kanon betonieren ließ, der als Legitimationsideologie der herrschenden Partei benutzt wurde.

Fragen, ob Bernstein überhaupt ein Name sein kann, der zur Tradition der bald PDS sich nennenden Partei gehört, blieben auch in den wenigen Wochen bis zum nächsten Parteitag Ende Februar 1990 nicht aus. Im Bericht der Programmkommission an die Delegierten verwies Klaus Höpcke damals auf die vielen Beiträge zur Debatte, die sich unter anderem damit auseinandersetzten, »wie wir die historischen Wurzeln beschreiben, aus denen wir erwachsen sind, sowie die geistigen Quellen, aus denen wir schöpfen«. Auch würden »einige Genossen« die »Bezeichnung der Lehren unserer Klassiker« vermissen, also die »Ismen«. Mit Verweis auf den Missbrauch des »dogmatischen Kanonisierens« hatte die Programmkommission allerdings »empfohlen, bei der Formulierung zu bleiben, die im euch vorliegenden Entwurf enthalten ist«.

Darin hieß es: »Wir schöpfen aus der Geschichte des humanistischen Denkens, insbesondere aus den dialektischen und materialistischen Auffassungen von Karl Marx und Friedrich Engels, Eduard Bernstein und Karl Kautsky, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, W.I. Lenin und Antonio Gramsci und ihrer nachfolgenden vielfältigen Weiterentwicklung. Die Partei nimmt alle diese Ideen kritisch in sich auf.« Das war natürlich ein großer Bauchladen, der von dem Wunsch nach Pluralismus nach der langen nichtpluralistischen Frostphase geprägt war, auch davon, die historische Spaltung der historischen Arbeiterbewegung wenigstens traditionspolitisch zu korrigieren. Programmatisch war es weniger ein wirklicher Bezug als das Aufmalen eines möglichst breiten Feldes der »Vordenker« - und damit auch ein Bemühen darum, einen ideengeschichtlichen Rahmen für eine in inhaltlichen Fragen stark auseinanderstrebende Organisation zu setzen.

Zunächst blieb es praktisch auch nur bei der Nennung des Namens von Bernstein in dem Programmdokument. Die Leute in der zu Ende gehenden DDR hatten offenbar andere Sorgen, als sich als erstes mit verschütteten sozialdemokratischen Positionen zu befassen. Natürlich war Bernstein auch eine Chiffre, sie sollte andeuten und untermauern, dass die PDS sich nun einem demokratischen Sozialismus verbunden fühle. Dass Bernstein in dem Programm von 1990 vor Kautsky genannt wird, hat wohl alphabetische Gründe; dass er überhaupt neben dem »orthodoxen« Freund von damals als einer der beiden für die sozialdemokratischen Wurzeln stehenden Denker aufgenommen wurde, hatte dennoch symbolische Wirkung.

Aber zugleich war es auch eine leere Geste, weil sie ohne eine wirkliche Auseinandersetzung mit Bernstein auskam, weil auch die Protagonisten der Diskussion zwar über Bernstein sprachen, es aber gar nicht so leicht war, ihn überhaupt im Original zu lesen. Abseits akademischer »Giftschränke« war Originalliteratur von Bernstein in der DDR nicht zu haben.

Auf das Problem wies der damalige PDS-Chef Gregor Gysi dann auch bald nach dem Wahlparteitag von Ende Februar hin - auf einer Klausurtagung des Parteivorstandes Mitte Mai 1990. Die Frage, was denn überhaupt »demokratischer Sozialismus« sein solle, war nicht nur eine theoretische oder strategische, sondern auch eine, die mit den Gespenstern in den Köpfen der Menschen umgehen musste. Jahrzehntelang war Bernstein ausschließlich durch die Schablone der Kritik Luxemburgs gezeichnet worden, er war der »Stammvater des Revisionismus«, und wer mit diesem Wort bezeichnet wurde, konnte in der DDR Beruf und Ansehen verlieren. Nun plötzlich war Bernstein im Himmel der theoretischen Klassiker gelandet. Wie gingen die Genossen damit um?

Gysi sagte damals, »die sozialistische Idee hat eine lange Geschichte, und die müssen wir neu befragen«. Man habe dazu »im Programm der Partei Namen angeführt, Persönlichkeiten der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, deren Denktraditionen wir uns verpflichtet fühlen. Doch wenn wir ehrlich sind, ist damit noch nicht viel getan«, gestand Gysi ein - »nehmen wir Eduard Bernstein oder Karl Kautsky. Sie sollen hier für die sozialdemokratische Traditionslinie stehen. Fast niemand hierzulande hat Schriften von Bernstein oder Kautsky im Original lesen können. Wie auch? Von Bernstein erschien nach 1945 auf unserem Territorium nichts, von Kautsky« kaum etwas, außerdem hatte Lenin diesen mit einem Begriff belegt, der ebenfalls als schwere Diffamierungskeule in der DDR gebraucht wurde: »Renegat«.

Das Bild über beide, so Gysi damals weiter, »ist von der Betrachtungsweise der SED geprägt, die sie seinerzeit von der KPdSU und der KPD übernommen hat. So war Bernstein eben der Stammvater des Revisionismus« und Kautsky »Feind der Oktoberrevolution«. Gysi räumte ein, dass es offenbar nicht nur ihm, sondern dem größten Teil der Basis schwerfallen müsse, »sich ein eigenes Bild zu machen. Ähnliches wäre über andere Theoretiker festzustellen. All das heißt natürlich nicht, nunmehr unter neuen Vorzeichen kritiklos neue Klassiker aufzubauen«. Notwendig erschien es Gysi dagegen umso mehr, »schnell Abhilfe beim Defizit an Veröffentlichungen zu schaffen. Wir haben mit den Genossen des Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung und des Dietz Verlages darüber gesprochen.« Gysi kündigte sogar an, dass »noch in diesem Jahr« Schriften von Bernstein erscheinen würden.

Was dann auch geschah. Als erstes brachte der bisherige SED-Verlag Dietz »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie« heraus, das Nachwort von Manfred Tetzel trägt das Datum des 15. März 1990. Unmittelbar danach folgten die beiden autobiografischen Bernstein-Schriften »Sozialdemokratische Lehrjahre« und »Entwicklungsgang eines Sozialisten«, die mit einem Nachwort vom 20. März 1990 ebenfalls von Manfred Tetzel versehen waren.

Bernstein war in der dann weiterlaufenden Debatte zwar präsent, aber meist als Symbol für eine bestimmte Theorietradition oder für eine Politikvariante, nicht als Theoretiker selbst. Wie man Kautsky und Lenin in ein Programm zusammenpacken könne, war eine der Fragen, die damals viele nicht beantworten konnten - oder jedenfalls nicht in dieser Weise wollten. Hans-Jürgen Mende vom Sozialdemokratischen Arbeitskreis etwa kritisierte im Juli 1990 das Programm, »das zu indifferent die geistigen Wurzeln der PDS beschreibt und weismachen will, es ließe sich der theoretische wie politische Beitrag der wichtigsten Vertreter sozialistischen Denkens … im Sinne einer Addition erfassen und die Summe als Erbe geltend machen«. Man könne ja auch nicht übersehen, »dass die meisten der im PDS-Programm aufgeführten sozialistischen Denker der Vergangenheit mit ihren Vorstellungen über den Weg zum Sozialismus und in ihrem Demokratieverständnis in mehr oder weniger striktem Gegensatz zu Lenin standen«.

Den wiederum verteidigten andere vehement. Auch Sahra Wagenknecht, damals noch Leitfigur der Kommunistischen Plattform, stemmte sich 1992 dagegen, dass Kautsky »post festum über Lenin« siegen solle, und war dagegen, dass »die Bernstein-Linie« sich »gegenüber der kommunistischen als die überlegene« erweisen könnte.

Dieser Tenor spielte auch in der Debatte über das 1993 folgende neue Grundsatzdokument der PDS eine Rolle: Die Konflikte vorher wie nachher drehten sich um die Beurteilung der DDR und des Staatssozialismus, und eben auch um die Frage, wie viel Reformsozialismus erlaubt und wie viel Antikapitalismus noch sinnvoll sein sollten. Reform oder Revolution - das hieß nun eher Mitregieren oder Fundamentalopposition. Längst hatten sich Fronten und Lager gebildet, die die Anfangszeit der PDS lange überdauern sollten.

Der Name Eduard Bernstein war aus dem Programm der PDS aber bereits 1993 wieder verschwunden. Einige derer, die »das konsequente, die Freiheit des Andersdenkenden stets respektierende Demokratieverständnis der Sozialdemokratie nicht als versöhnlerische Schwäche« abtun wollten, »sondern als unumgängliche Voraussetzung jedes demokratischen Sozialismus« begriffen, wie es Bernstein einmal formuliert hat, hatten die PDS zu dem Zeitpunkt ebenfalls schon verlassen.