nd-aktuell.de / 16.05.2018 / Kommentare / Seite 18

Mit Haltung ums Ganze

Marie Frank fordert einen zeitgemäßen linken Klassenbegriff

Marie Frank

Im Jubiläumsjahr von Karl Marx scheint die radikale Linke ihre klassenkämpferischen Wurzeln wiederzuentdecken. Seit dem Geburtsjahr des revolutionären Theoretikers vor 200 Jahren haben sich die Produktionsverhältnisse jedoch radikal verändert. Die damit verbundenen Konsequenzen betreffen nicht nur die Zusammensetzung des Proletariats, sondern auch die ideologischen Rahmenbedingungen: Die Fähigkeit des Neoliberalismus, emanzipatorische Praktiken und Forderungen aufzunehmen und in seine Politik zu integrieren, scheint jegliches kritisches Potenzial zu zersetzen.

Damit das nicht passiert, müssen linke Kämpfe in einen breiten Kontext gestellt werden, in dem klar ist, dass es nicht nur um die Erfüllung einzelner Forderungen geht, sondern ums Ganze. Eine Kritik an bestimmten Problemkonstellationen reicht nicht aus, um eine Umwälzung der bestehenden Eigentumsverhältnisse herbeizuführen. Diese müssen vielmehr politisiert und zu einem Stellvertreter für eine allgemeine Kritik an den kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen gemacht werden.

Die radikale antikapitalistische Linke ist in der Frage potenzieller Bündnispartner*innen zutiefst gespalten. Viele der migrantischen, feministischen oder gewerkschaftlichen Organisationen agieren innerhalb des bürgerlichen Rahmens und sind mit ihren reformorientierten Forderungen für eine Bewegung, der es ums Ganze geht, schwer anschlussfähig - für beide Seiten. Nicht nur angesichts des zunehmenden gesellschaftlichen Rechtsrucks kann es sich die Linke jedoch nicht leisten, sich innerhalb ihrer Blase lediglich mit sich selbst zu beschäftigen. Netzwerke mit Teilen der Zivilgesellschaft einzugehen, ist daher unumgänglich.

In der Arbeit mit Geflüchteten hat sich gezeigt, dass dies nicht nur möglich, sondern auch dringend nötig ist. Natürlich kann es nicht darum gehen, dass die radikale Linke Aufgaben des Staates übernimmt und durch zivilgesellschaftliches Engagement zur Aufrechterhaltung des Status quo beiträgt. Trotzdem kann die Not vieler Menschen von der Linken nicht einfach ignoriert werden, sondern muss Eingang in die praktische Arbeit finden. Das bedeutet auch, dass die Menschen konkret dort unterstützt werden, wo sie durch die Verwertungslogik hinten runterfallen - seien es Geflüchtete, Obdachlose, Prostituierte oder auch Mieter*innen, die von Verdrängung bedroht sind.

Dabei geht es nicht darum, sich an die Ausgabe der Tafeln zu stellen und Essen an Bedürftige zu verteilen. Es geht darum, die Menschen politisch zu unterstützen und für ihre Rechte und Teilhabe zu kämpfen. Die radikale Linke hat in der jüngsten Vergangenheit sozialpolitische Fragen zu lange ignoriert. Deren praktische Auswirkungen und der damit verbundene Leidensdruck bieten jedoch ideale Anknüpfungspunkte, radikale Forderungen auch für Reformkräfte anschlussfähig zu machen. Wer schon einmal durch Luxussanierungen aus seiner langjährigen Wohnung verdrängt wurde, findet die Idee der Ent- beziehungsweise Aneignung von Wohnraum gar nicht mehr abwegig. Wer in seiner ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit mit dem Massensterben im Mittelmeer konfrontiert ist, hält nationalstaatliche Grenzen vielleicht für keine so gute Idee.

Soziale Themen wieder in linke Kämpfe aufzunehmen und auf eine breite proletarische Basis zu stellen, ist mit der Frage verbunden, wer das Proletariat heutzutage überhaupt ist. Angesichts der veränderten Produktionsverhältnisse lässt sich mittlerweile schwer bestimmen, wer dazu gehört und wer nicht. Selbstständige, Subunternehmer*innen und Projektarbeiter*innen lassen sich nicht ohne Weiteres zuordnen.

Aus diesem Grund kann das Proletariat auch nicht länger durch die Stellung der Menschen im Produktionsprozess definiert werden. Eine zeitgemäßere Definition wäre die Zugehörigkeit zum Proletariat anhand der subjektiven Haltung zum Klassenkampf. Jeder Mensch, der sich der kapitalistischen Ausbeutung widersetzt und diese bekämpft, kann Teil des Proletariats sein. Ein derartig integrativer Klassenbegriff wäre zumindest in der Lage, die verschiedenen emanzipatorischen Kämpfe unter einem Begriff zu vereinen.

Eine zeitgemäße linke Klassenpolitik muss dabei den neuen Formen von Prekarität und Ausbeutung Rechnung tragen und die Betroffenen in ihre Kämpfe integrieren. Das bedeutet nicht nur eine stärkere transnationale Vernetzung der Kämpfe, sondern auch eine Zusammenarbeit über herkömmliche Spaltungslinien hinweg. Die wichtigen Kämpfe gegen Nationalismus, Rassismus, Sexismus, Umweltzerstörung und vieles mehr mit sozialen Fragen zu verbinden, ohne sie zu hierarchisieren, bietet das Potenzial, den Klassenkampf auf eine breitere Basis zu stellen - und der rechten Vereinnahmung benachteiligter Schichten entgegenzuwirken.

Ein Beispiel dafür ist die Kampagne »Make Amazon Pay!«, die sich für die gewerkschaftlichen Interessen der Amazon-Beschäftigten einsetzt und diese gleichzeitig in einen breiten antikapitalistischen Kontext stellt. Die Kritik an dem Internetgiganten steht dabei stellvertretend für die allgemeinen prekären Arbeitsbedingungen im neoliberalen Zeitalter.

Die Herausforderung linker Klassenpolitik ist also, die verschiedenen widerständigen Praktiken im Kampf gegen den Kapitalismus zusammenzubringen. Doch wie kann ein derartiger Zusammenschluss gelingen, ohne die authentischen Forderungen der einzelnen Bewegungen zu kurz kommen zu lassen? Indem jeder Kampf um den Anteil der Anteillosen für die grundsätzliche Falschheit des kapitalistischen Systems steht.

Für den Philosophen Slavoj Žižek birgt der Ausschluss bestimmter Elemente aus der Gesellschaft immer auch revolutionäres Potenzial. Denn da die herrschende Ordnung vorgibt, die Interessen aller zu verkörpern, untergräbt allein die Tatsache, dass es einen Teil ohne Anteil gibt, die bestehende Ordnung. Indem sich ein Teil der Gesellschaft, der sich der ihm zugewiesenen untergeordneten Stellung verweigert, mit dem Allgemeinen identifiziert und als ihr Vertreter auftaucht, destabilisiert er die vermeintlich natürliche kapitalistische Gesellschaftsordnung. Wenn die Stadt allen gehört, warum kann sie sich dann keiner mehr leisten? Wenn unsere Wirtschaftsordnung Wohlstand für alle bringt, warum gibt es dann so viele arme Menschen? Die Frage ist doch, wer mit »alle« eigentlich gemeint ist.

Indem sich die Linke mit diesem Anteil der Anteillosen solidarisiert, können die herrschenden Verhältnisse als falsche und konstruierte Ordnung sichtbar gemacht werden. Damit wird die Möglichkeit der Veränderbarkeit eingeführt und der Raum für eine nichtkapitalistische Ordnung eröffnet. In gemeinsamen Orten des Widerstandes können die verschiedenen Spaltungen überwunden und ein proletarisches Bewusstsein geschaffen werden. Da jeder Kampf für die Falschheit des kapitalistischen Systems stehen kann, bieten sich hier vielfältige Möglichkeiten.

Ein Ansatzpunkt wären die aktuellen Kämpfe gegen Verdrängung. Indem die Betroffenen konkret unterstützt und nachbarschaftliche Strukturen gestärkt werden, bieten sich hier vielversprechende Anknüpfungspunkte für die Einbeziehung breiter Bevölkerungsteile und für progressive Kämpfe. Und wenn die Spaltungen nicht mehr innerhalb einer Klasse, sondern zwischen den Klassen verlaufen, wäre man im Kampf gegen das ausbeuterische kapitalistische System einen entscheidenden Schritt weiter.