Instinktsicher

Heiner Müller in Lyon

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 3 Min.

Heiner Müller (1929 - 1995) überblickte sein Jahrhundert von der Höhe der Leichenberge aus, die es aufgetürmt hatte. Er sah aber auch die tektonischen Verwerfungen darunter - so scharf wie den Verlust von Humanität auf allen Seiten. Klar, dass in einer Oper, die auf seinen beiden Germania-Stücken (von 1971 und 1995) beruht, Hitler und Stalin persönlich auftreten. Der Gulag und Auschwitz kommen vor.

Die Oper Lyon hat den Auftrag für »GerMANIA« an Alexander Raskatov vergeben. Instinktsicher, was die wiedererwachende Dringlichkeit von Müllers Texten betrifft, aber auch, was die Fähigkeit des Russen anbelangt, eine theaterwirksame Musik zu komponieren. Raskatov folgte dabei dem eigenen Stern ebenso wie seinem Gegenstand. Und landete einen Volltreffer!

John Fulljames (Regie), Magda Willi (Bühne) und Wojciech Dziedzic (Kostüme) sorgten für den passenden szenischen Rahmen. Es ist eine Melange aus Toteninsel und Leichenbergen, die die Banalität des Alltagsschreckens noch jedes Mal ins grundsätzlich Absurde weitet. Alles beginnt mit einem Dialog zwischen Thälmann (Michael Gniffke) und Ulbricht (Ville Rusanen). Der endet mit der Frage: »Was haben wir falsch gemacht?« Dann wechselt die Sprache vom Deutschen ins Russische. Zu Stalin, der sich den »neuen Menschen« nicht ohne Liquidierung vieler »alter« vorstellen kann. Dazu kommt der Wechsel zwischen Oben und Unten. Da wird ein gefangener Deutscher bestialisch abgeschlachtet, oder deutsche Soldaten machen sich über einen toten Kameraden her.

Neben dem Bruch der Zivilisation auf den Schlachtfeldern: der Triumph des Fanatismus bei den drei Witwen, die sich von einem SS-Mann töten lassen, damit sie den Untergang »ihres« Reiches nicht miterleben müssen. Szenisch ein Höhepunkt der Inszenierung und ein Tiefpunkt der Geschichte, die hier aufscheint. Vor allem die Frauen Sophie Desmars, Elena Vassilieva und Mairam Sokolova faszinieren mit ihren schrägen hysterischen Koloraturen wie direkt aus dem Höllenabgrund.

Dann wieder Hitler (James Kryshak), auf dem Weg nach Walhalla - in einer Szene der ganze »Untergang«. Der kommt dann tatsächlich. Zu ein paar verfremdeten Takten der zitierten Siegerhymne als Vergewaltigung einer deutschen Frau durch einen russischen Soldaten. Wenn der gerade befreite Ehemann den Vergewaltiger erschlägt und dafür seinerseits ins Lager kommt, schlagen die Verwerfungen der Mitte des Jahrhunderts und Müller zu - Dialektik, bis zur Kenntlichkeit entstellt.

Schließlich der Absprung in die Groteske einer Utopie aus und auf Trümmern. Mit einem Sarg von Fritz Cremer für den toten Brecht, der zu kurz geraten ist. Ganz so wie die DDR zu eng war für den lebenden Dichter. Das »Auschwitz-Requiem« zum Abschluss der zehn Szenen ist eingebettet in Gagarins berühmten Funkspruch »Dunkel ist der Weltraum«. Ein Satz aus der Rubrik: große Worte, gelassen ausgesprochen. Ungeteilter Beifall in Lyon, vor allem auch für den Argentinier Alejo Pérez am Pult des fabelhaften Orchesters nach einer in jeder Hinsicht packenden Geschichtslektion!

Nächste Vorstellungen: 23., 28. und 30. Mai sowie 4. Juni

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