nd-aktuell.de / 28.04.2007 / Sport
Daumes Warnung in den Wind geschlagen
Die »nachholende Modernisierung« und Delegitimierung des DDR-Sportsystems nach 1990
Michael Müller
Der Deutsche Turn- und Sportbund der DDR (DTSB) rangierte 1989/90 in der weltweiten Spitzengruppe der nationalen Sportorganisationen. Was die Effizienz im Leistungs- wie im Breitensport angeht, war er wahrscheinlich sogar ganz vorn.
Wie alle anderen Bereiche der DDR-Gesellschaft bewahrte ihn das indes ab 1990 nicht vor der vollständigen Abwicklung. Und wie bei anderen DDR-Bereichen basierte das auf zwei staatspolitischen Prämissen der alten Bundesrepublik Deutschland:
Erstens wurde dem »Beitrittsgebiet« eine »nachholende Modernisierung« verordnet, die »die völlige Aufhebung des Institutionsgefüges der DDR und das Auf- und Überstülpen der BRD-Institutionen vorsah«, wie der Berliner Soziologe Prof. Karl Ulrich Mayer konstatiert. Zweitens wurde dafür in der neuen BRD ein »rechtstaatliches« Feld bereitet. »Es muss gelingen, das SED-System in allen Bereichen zu delegitimieren« (Bundesjustizminister Klaus Kinkel 1991).
Krieg verloren. Basta!
Sicher gab es demgegenüber in der Funktionselite des bundesdeutschen Sports auch warnende Stimmen und sportkameradschaftliche Ambitionen. »Die Nachwelt wird es uns nie verzeihen, wenn wir den stolzen DDR-Sport kaputtmachen«, mahnte beispielsweise NOK-Präsident Willi Daume.
Die sportpolitische Praxis ging ab 1990 über solche Einwände hinweg. Olympiasieger Rüdiger Helm, DDR-Kanuverbandstrainer, in der BRD geschasst, erinnert sich: »Die haben mir gesagt: Ihr habt den Krieg verloren, mit Dir arbeiten wir nicht mehr. Basta.« Anderenorts geschah die »machiavellistische Übernahme« (Prof. Klaus von Beyme, Heidelberg) subtiler, aber nicht weniger perfide. So wählte der bundesdeutsche Turnerbund DTB im September 1990 demonstrativ erst im alten Kreis seinen Vorstand, um danach bei der gleichen Veranstaltung den DDR-Turnverband DTV, der international um ein Vielfaches erfolgreicher war, aufzunehmen.
Ein Jahrzehnt nach dem »Anschluss« zog der Soziologe Dr. Peter Rummelt (damals Düsseldorf, heute Greifswald) dieses thesenhafte »Transformation«-Fazit: 1. Erhaltenswertes des DDR-Sports ist nicht erhalten worden. 2. Die Herstellung der »inneren Sporteinheit« verlief nicht erfolgreich. 3. Im Transformationsprozess sind schlechte Standards des Westens transformiert worden. 4. Mögliche und notwenige Änderungen im bundesdeutschen Sportsystem wurden nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Rummelt führte 14 konzeptionelle und organisatorische »Modernisierungsvorsprünge« des DDR-Sports unter der DTSB-Ägide an - von »sozialer Akzeptanz und Legitimation« bis zu »wissenschaftlich gestützten Steuerungsprinzipien«.
Die Abwicklung des DTSB wurde in den meisten deutschen Medien seit 1990 vor allem in Verbindung mit folgenden Vorwürfen als moralisch gerecht und alternativlos dargestellt: zentral gelenktes »flächendeckendes« Doping im DDR-Sport, Ungerechtigkeiten durch fördermäßige Zweiteilung des Sportsystems, Behinderung oder auch Verbot von Sportarten wie Karate oder Yoga sowie paramilitärische Ausrichtung.
Hölle und Paradies
All das hat es in der DDR unter Verantwortung des DTSB zwar auch gegeben, allerdings wird es heute meistens schwarz-weiß versimpelt. Dabei besteht die Demagogie viel weniger in der Fälschung oder Verzerrung von Fakten, sondern darin, dass einer vermeintlichen DDR-Sporthölle ein vermeintliches BRD-Sportparadies gegenübergestellt wird. Dessen tiefe Blessuren werden, um den BRD-Sport als »gesellschaftliches Referenzmodell« (Prof. Karl Ulrich Mayer) nicht zu beschädigen, politisch wie journalistisch kaum thematisiert.
Der Heidelberger Sportsoziologe Prof. Gerhard Treutlein zeigt sich »wenig verwundert«, dass es deshalb auch kaum Aufträge und Gelder für entsprechende Forschungsprojekte gibt. So bleiben öffentlich übrigens nicht nur die »flächendeckenden« dezentralen Dopingzirkel oder mancher Förderwidersinn in der alten BRD völlig unterbelichtet. Gleiches gilt u.a. auch für die dortige »ungebrochene Fortsetzung der Aktivitäten von Nazi-Sportführungskräften« nach 1945, wie der Göttinger Historiker Dr. Wolfgang Buss hervorhebt.
Wissen oder zumindest Ahnung um all diese Zusammenhänge stand möglicherweise Pate für ein Bonmot, das am Rande von internationalen Sportveranstaltungen und -kongressen die Runde macht: Die Deutschen haben vielleicht den richtigen Staat abgewickelt, aber wohl das falsche Sportsystem.
Abwicklungschronik
12.12.1989: DTSB-Präsident Klaus Eichler tritt zurück.
5.1.1990: Runder Tisch des DDR-Sports.
4.3.1990: Martin Kilian wird letzter DTSB-Präsident.
16.6.1990: Beginnende Entlassung von 10 500 Mitarbeitern.
21.6.1990: DTSB-Vermögen unter Treuhand gestellt.
28.6.1990: Vereinigungspapier mit Deutschem Sportbund (DSB) der BRD vorgestellt.
3.9.1990: Fachverbände Ost beginnen, in Westverbände aufzugehen.
15.-27.9.1990: Gründung der Landessportbünde Ost.
5.12.1990: DTSB-Auflösung.
15.12.1990: Aufnahme der neuen Landessportbünde Ost in den Dachverband DSB West.
(nach L.H. Niese, Sport im Wandel, Frankfurt/Main, 1997)
Zahlen und Fakten
Am 27./28. April 1957 gründeten 304 Delegierte von 1,2 Millionen Sportlern aus 5500 Sportvereinen in Berlin den Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB).
Erster DTSB-Präsident wurde Rudi Reichert. Ihm folgte Manfred Ewald mit der längsten Amtszeit (1961 bis 1988).
Die höchste Mitgliederzahl im DTSB gab es 1989 mit 3,7 Millionen in 10 700 Vereinen.
Die 35 Sportverbände im DTSB waren seit 1969 unterteilt in besonders geförderte Verbände (Sport I mit 18 »medaillenträchtigen« olympischen Verbänden) und weniger geförderte Verbände (Sport II mit 17 olympischen und nichtolympischen Verbänden). Zu Sport I gehörten 20 000 Nachwuchs- und Kaderathleten. Sport II vereinte den übergroßen Rest der DTSB-Mitglieder (u.a. im Basketball, Hockey, Tischtennis, Wasserball, Eishockey, Kegeln, Tennis, Schach, Pferdesport), erhielt aber nur ein Viertel der Gesamtfördermittel.
Kinder- und Jugendspartakiaden (ab 1965) hatten im Kreismaßstab jährlich bis zu 900 000 Teilnehmer. Zum Finale, der DDR-Spartakiade, die bis 1989 zwölf Mal durchgeführt wurde, traten 10 000 der besten Mädchen und Jungen an.
Zu den jährlichen Volkssport-aktivitäten gehörten: »Tischtennisturnier der Tausende« (300 000 Teilnehmer), Volks-sport-Kegelpokal (120 000), Volleyball »Ran ans Netz« (11 000 Mannschaften), Lauftreffs (1986: 100 000).
Die DDR-Sportler gewannen von 1956 bis 1988 bei Olympischen Sommerspielen 160 Gold-, 153 Silber- und 141 Bronzemedaillen sowie bei
Winterspielen 43 Mal Gold, 39 Mal Silber und 36 Mal Bronze.
Nach 1990 wurden im Zusammenhang mit Dopingvergehen im DDR-Sport etliche Funktionäre, Trainer und Sportmediziner strafrechtlich verurteilt. 167 Doping-Opfer erhalten eine Entschädigung. Jürgen Holz
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/108905.daumes-warnung-in-den-wind-geschlagen.html