Hier die Klinke, dort die Tür

Visuelle Dichtung, der Klang der Welt und eine Rede von Elke Erb: Das 19. Poesiefestival verschafft der Lyrik Raum

  • Andreas Form
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit fast zwanzig Jahren veranstaltet die Literaturwerkstatt Berlin - 2016 umbenannt in »Haus für Poesie« - das Poesiefestival. Die Akademie der Künste (AdK) stellt auch für die 19. Ausgabe wieder ihre Räume im Hansaviertel zur Verfügung. Eine Woche lang steht hier und an vielen Orten der Stadt alles im Zeichen der Poesie. Gäste aus aller Welt lesen und diskutieren, das ebenfalls internationale Publikum will hören und sehen.

In diesem Jahr stehen zwei Schwerpunkte im Vordergrund: die konkrete Poesie und die tschechische Lyrik. An zwei Festivaltagen öffnet sich das Festival und schwärmt in die Bezirke aus. So ging es am Donnerstag unter dem Motto »Raus mit der Sprache« los mit Highlights der konkreten, visuellen und Lautpoesie in Berliner Galerien und Sammlungen. Galerie und Verlag Broken Dimanche Press in Neukölln stellen »Negative Calligramme« von Nathalie Czech und John Holten aus. In einem auf Englisch geführten Dialog erläuterten die Künstler zur Eröffnung ihre Ideen. Schreibmaschinentexte seit den 1960er Jahren sind unterdessen in der Galerie Oqbo in der Brunnenstraße zu bewundern, und die Galerie BQ in der Nähe des Rosa-Luxemburg-Platzes stellt Werke des Multimedia-Pioniers Kriwet vor. Diese und eine Reihe weiterer Ausstellungen zur Verbindung von visueller, akustischer und konkreter Poesie sind in den beteiligten Galerien noch bis zum kommenden Donnerstag zu sehen.

Richtig an Fahrt nahm das Festival, das diesmal unter dem schönen Titel »Werte Vers Kunst« firmiert, dann am Freitag auf. Nach den Grußworten, die im AdK-Gebäude traditionell von der Treppe gehalten werden, ertönte in einer Nacht der Poesie wieder ein »Weltklang« mit originalsprachlich vorgetragenen Gedichten internationaler Dichterinnen und Dichter. So trafen der elegante Australier Robert Forster oder Jorge Kanese aus Paraguay auf die Deutsche Kerstin Preiwuß oder auf Yoko Tawada, eine Japanerin aus Berlin. Charles Bernstein aus den USA zeigte sich mit einem Anti-Trump-Gedicht auch formal ganz auf der Höhe der Zeit. Und der Däne Søren Ulrik Thomsen begeisterte das Publik derart, dass seine Werke am Büchertisch schnell ausverkauft waren. Leider hat der polnische »Poète maudit« Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki absagen müssen. Seine sprachlich und inhaltlich an die Grenzen gehenden Texte hätten sicher noch einmal eine andere Dimension beigesteuert.

Am Sonnabend ging es wieder in die Bezirke. Auf neun Veranstaltungen, an denen sich auch das Instituto Cervantes in der Rosenstraße beteiligte, konnten die Berliner in ihren Stadtteilen wichtige Stimmen hören. So trat Kerstin Hensel in der Villa Oppenheim in Charlottenburg auf, Bert Papenfuß in der Novilla in Schöneweide, die Ungarin Kinga Tóth in Pankow und Ursula Krechel im Schöneberg-Museum. »Poet’s Corner« heißt diese schon seit Jahren angebotene Reihe, in der Dichterinnen und Dichter dort aufeinandertreffen, wo die Menschen leben. Sachkundig moderiert, kamen sie miteinander und mit dem Publikum ins Gespräch.

Am Abend, wieder im Akademiegebäude im Hansaviertel, ein hochpolitisches Thema: Auf einem »Weltklimagipfel der Poesie« diskutierten die Niederländerin Tsead Bruinja, der Pakistani Imtiaz Dhaker, der auch in einem Workshop für Schulklassen auftretende Kendl Hippolyte aus Santa Lucia und die Grönländerin Jessie Kleemann über die politische Dimension und das poetische Potenzial der Thematik.

Am Sonntag dann mischten sich die Eindrücke von innerhalb und außerhalb des Gebäudes: Während im Clubraum über »Arrièregarden« der Konkreten Poesie verhandelt wurde - ein Gegenbegriff zu den Avantgarden, den man mit »Nachhut« übersetzen könnte -, gingen draußen die Beschallungen gegen rechts los.

Drinnen rief zunächst die Literaturwissenschaftlerin Annette Gildbert unter dem Titel »The New Concrete!?« das in Erinnerung, was vor längerer Zeit als »konkrete Poesie« hochmodern war, bevor die Dichter Eugen Gomringer, Hannes Bajohr, Andreas Bülhoff und der Schwede Karl Holmqvist über Gegenwart und Zukunft dieser Kunstform sprachen. Unerbittlich moderiert wurden die Podien von Michael Lentz, der seinen Gesprächspartnern keine Ungenauigkeit durchgehen ließ. Sehr konkret begleitet wurde der dreistündige Vormittag durch die dichten Mauern des Akademiegebäudes hindurch aber eben auch durch das deutlich vernehmbare »Wegbassen« des AfD-Aufzuges durch mehrere Gegendemonstrationen.

Konkret auch der Gegenstand, der auf dem Tisch mit den Kopfhörern für die Übersetzungen zu liegen kam: visuelle Poesie? Nein, irgendjemand hatte eine Türklinke, die sich wohl gelöst hatte, dort abgelegt. Eine konkrete Metapher für die Vergänglichkeit der Welt? Oder für »Kunst am Bau«?

Die Überzahl der AfD-Gegner, die Vielfarbigkeit der Autorinnen und Autoren, die vielen Sprachen der Besucher auf dem Lyrikmarkt am Sonntagnachmittag - alles stimmte auf die »Berliner Rede zur Poesie« ein, die Elke Erb am Sonntagabend hielt: »Das Gedicht ist, was es tut« hat die Dichterin ihre Rede überschrieben, die in gedruckter Form auf Deutsch und Englisch im Göttinger Wallstein-Verlag erscheint. Erbs Rede, aus Versen gefügt, entwirft ein »life in progress«, das Leben einer Dichterin. Es ist darin nachzuvollziehen, wie sich das Dichten im Leben entwickelt. Elke Erb ist jetzt 80 Jahre alt. Sie hat alle wichtigen Auszeichnungen der deutschen Literatur erhalten. Vielleicht hat sie auch die Anfrage, diese »Berliner Rede zur Poesie« zu halten, als Ehrung empfunden. Ihre Fans jedenfalls fanden das.

Das Poesiefestival Berlin läuft noch bis zum 31. Mai. Informationen unter www.haus-fuer-poesie.org

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