nd-aktuell.de / 04.06.2018 / Kultur / Seite 14

Inspiriert von Chagall

Zum 80. Geburtstag des Berliner Dichters Ulrich Grasnick

Marko Ferst

Bei Lesungen anlässlich zurückliegender runder Geburtstage von Ulrich Grasnick baute der Musikprofessor Günter Schwarze sein Porzellanglockenspiel auf. Beide traten dann gemeinsam auf. Eine solche Vorstellung bleibt tief im Gedächtnis haften, das Glockenspiel ein exzellenter Hörgenuss. Schwarze vertonte für ein Oratorium zum Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche Grasnicks Gedicht »Das Licht der Steine löscht die Nacht«. Das Oratorium gedenkt nicht nur deutscher Opfer, sondern auch jener in Coventry und setzt gelebte Versöhnung in den Mittelpunkt.

In Pirna geboren, studiert Ulrich Grasnick ab 1959 an der Hochschule für Musik in Dresden. Dort lernt er seine Frau Charlotte kennen, gemeinsam gehören sie zum Ensemble der Komischen Oper Berlin unter Walter Felsenstein und treten im Rundfunkchor Berlin auf. Zusammen veröffentlichen sie später den Lyrikband »Flugfeld für Träume«, Bilanzen einer Partnerschaft, Liebesgedichte, gewagte Einsichten, illustriert durch Grafiken von Wilhelm Lachnit.

Als 1973 Grasnicks erster Gedichtband »Der vieltürige Tag« erscheint, folgen regelmäßig weitere. Zunächst spielen Natur, Landschaften, die Gitarre von Victor Jara in Chile, ölverschmutzte Meere eine Rolle, der DDR-Aufbau jener Jahre scheint durch. In damaligen Zeiten holen Gedichte, die auf Wien oder Paris zielen, ein Stück westliche Welt auf östliche Buchseiten. In dem Band »Fels ohne Eile« (2003) wird Grasnick erneut ins Elbsandsteingebirge zurückkehren. Seine Gedichte wirken wie leichte Wortgewebe, frei schwebend, und zumeist zeigen sie nur die Richtung an, geben viel Raum für Assoziationen.

Ein großes Kapitel in seinem Leben gilt der Malerei. Begonnen hatte alles mit dem Band »Pastorale« zu Gemälden und Holzschnitten des Expressionisten Karl Schmidt-Rottluff. In »Das entfesselte Auge« führt Grasnick einen poetischen Gedankenaustausch mit Pablo Picasso, so gerät dessen Guernica-Bild ins Blickfeld.

Aus der Bodenverstärkung eines Westpaketes, ein alter Kalender mit Motiven von Marc Chagall, entspinnt sich eine besondere Inspiration. Dieser Künstler wird Grasnick lebenslang begleiten. Seine Gedichte zu Bildern des Malers russisch-jüdischer Herkunft, zu finden in »Liebespaar über der Stadt« (1979), gefallen dem in Frankreich lebenden Chagall und er lädt Grasnick zu sich ein. Ihn beeindruckt, wie der Dichter »Nebenstraßen« auf seinen Bildern aufleuchten lässt. Zwar wird der Grenzübertritt nach Frankreich am Ende genehmigt, doch ohne Valuta. Ein heikler Ausflug, der zu gitarrenbegleiteten Sangeskünsten auf der Straße motiviert. Das zweite, Bildern Chagalls nachspürende Buch »Hungrig von Träumen« (1990), markiert unter anderem Werke, die in Mannheim 1933 durch die Nazis verbrannt wurden. Im Band sind auch einige Passagen von Gedichten Chagalls abgedruckt, die Grasnick einst nachdichtete und in der Radiosendung »Stunde der Weltliteratur« vortrug.

Anfang 2018 legte Grasnick seinen dritten Band im Dialog mit Bildern Chagalls unter dem Titel »Fermate der Hoffnung« vor. Erstmals findet man hier Gedichte von ihm zweisprachig, jeweils in deutscher und in russischer Sprache, übersetzt von Wjatscheslaw Kuprijanow sowie Irina und York Freitag. Die Fermate kann dabei einen Ruhepunkt in der Musik bezeichnen oder die Dehnung eines letzten oder vorletzten Verses, der das metrische Schema öffnet. Die Gedichte scheinen wie ein Wechselspiel zwischen poetischen und musikalischen Zeichen und der Sphäre des Malens, eine künstlerische Wanderung. Grasnick sucht den Herzschlag der Bilder unter dem Firnis, beschreibt, wie wir anfangen, uns in ihnen selbst zu finden, wie sie uns traumgleich umfangen.

Druckfrisch zu Grasnicks 80. Geburtstag publiziert der Quintus-Verlag nun den Gedichtband »Auf der Suche nach deinem Gesicht«. Es ist eine Reise zu dem Dichter Johannes Bobrowski und seinen Landschaften. Grasnick besuchte Tilsit, die Geburtsstadt des Dichters, die heute Sowjetsk heißt, und fand in der Smolenskaja eine grünspanige Gedenktafel. Oft überschneiden sich innere Bilder und die Eindrücke, gewonnen vor Ort. Bis nach Willkischken wird er Bobrowskis Spuren folgen, wo es ein kleines Museum gibt, in dem dessen Arbeitszimmer nachgebildet wurde mit dem originalen Mobiliar aus Berlin-Friedrichshagen. Willkischken ist der Handlungsort des Bobrowski-Romans »Litauische Claviere«. Auf der Suche nach einem Land, das größer schien als das seine, schreibt Grasnick: »Zwischen welche Barrieren/ ist es geraten−/ Sprache von Bernstein/ dunkel und hell,/ mit aufgebrochener Kruste/ aus dem Schatten/ der blauen Erde.«

Verdienste erworben hat sich Grasnick mit der Leitung des Köpenicker Lyrikseminars, das seit 1975 existiert und sich bis heute zusammenfindet im »Kulturzentrum Adlershof«. Zuletzt wurde 2014 aus diesem Kreis heraus die Anthologie »Seltenes spüren« publiziert, an einer neuen wird derzeit gearbeitet. Zum zweiten Mal schrieb der Dichter auch einen Lyrikpreis auf seinen Namen aus, eine unabhängige Jury wird die Texte begutachten, bis zum 30. Juni sind Einsendungen möglich.

Ulrich Grasnick: Auf der Suche nach deinem Gesicht. Gedichte zu Johannes Bobrowski. Quintus, 120 S., br., 18 €.

Am 13. Juni, 19.30 Uhr, findet im Kulturzentrum Adlershof (Dörpfeldstr. 54) eine Lesung mit Ulrich Grasnick anlässlich seines 80. Geburtstages statt, Titel: »Wenn wir den Atem anhalten«.