nd-aktuell.de / 06.06.2018 / Berlin / Seite 9

Jenseits der Schmerzgrenze

Die letzte Etappe der Aktion »Therapeuten am Limit« endet im Gesundheitsministerium

Maria Jordan

Der Himmel ist bewölkt und es ist kühl, als sich am Dienstagmorgen weit über 100 Therapeut*innen mit Fahrrädern von der Glienicker Brücke in Potsdam auf den Weg nach Berlin machen. Mit dabei sind auch die Physiotherapeutinnen Stephanie Wheeldon und Kristin Seidel. Die Berlinerinnen schließen sich der Protestaktion »Therapeuten am Limit« ihres Frankfurter Kollegen Heiko Schneider an. Der fuhr mit dem Fahrrad von Frankfurt am Main zum Bundesgesundheitsministerium nach Berlin, um auf die prekären Arbeitsbedingungen in seinem Berufsfeld aufmerksam zu machen. Wheeldon und Seidel begleiten ihn auf seiner letzten Etappe.

Berlin ist eins von acht Bundesländern, in dem im Bereich Physiotherapie Fachkräftemangel herrscht. Das belegt eine Analyse der Bundesagentur für Arbeit von 2017. Kaum verwunderlich, wenn man sich die Arbeitsbedingungen anschaut: Laut Entgeltatlas liegt das Gehalt für Vollzeit beschäftigte Physiotherapeut*innen mit »Spezialistentätigkeiten« bei einem Mittelwert von 2157 Euro brutto. Die Kosten für notwendige Fortbildungen müssen die Therapeut*innen selbst tragen. Schon die Ausbildung ist eine finanzielle Belastung - sie kostet knapp 360 Euro im Monat, drei Jahre lang. Stephanie Wheeldon kam deshalb bereits verschuldet aus der Ausbildung. »Ich musste einen Bildungskredit aufnehmen«, erzählt die 41-Jährige, die in einer Praxis in Lichtenberg als Angestellte arbeitet.

Der Einstiegslohn für Physiotherapeut*innen liegt in Berlin dann bei gerade einmal zehn Euro. Davon kann man kaum leben, geschweige denn, denn einen Bildungskredit abbezahlen. »Dass der Einstiegslohn so gering ist, ist eigentlich kaum zu glauben«, sagt Kristina Seidel, der die Praxis, in der Wheeldon arbeitet, gehört. »Die hohen Kosten für die Ausbildung will niemand bezahlen - und wir finden keinen Nachwuchs.« Bewerber*innen gibt es keine mehr. »Wir bewerben uns selbst bei potenziellen Mitarbeiter*innen, zum Beispiel bei ehemaligen Praktikant*innen«, erzählt Seidel. »In der Hoffnung, dass die dann bei uns arbeiten wollen.«

Doch der Arbeitsalltag von Physiotherapeut*innen ist hart. Auch in der Praxis von Kristin Seidel müssen die Angestellten unter Hochdruck arbeiten. »Bei sieben Stunden Arbeit am Tag versorge ich in der Regel 14 Patient*innen«, berichtet Wheeldon. Das heißt, pro Patient*in sind 30 Minuten Behandlung eingeplant - inklusive an- und auskleiden, Rezeptprüfung und Dokumentation. Pausen zwischen den Patient*innen gibt es nicht. Für sechs mal 20 Minuten Krankengymnastik zahlten mache Kassen nur 76 Euro, bei anderen ist es nur unwesentlich mehr.

»Der Stundenlohn steht in keinem Verhältnis«, sagt Praxischefin Seidel. »Hätten wir nicht so ein gutes Team und würden uns immer wieder gegenseitig motivieren, könnten wir den Job nicht machen.« Stephanie Wheeldon nickt. »Am Ende sind es auch die Patient*innen, die unter den Bedingungen leiden, weil sie nicht behandelt werden«, sagt Seidel. Auf einen ersten Therapietermin müssten diese teilweise drei Wochen lang warten, auch bei akuten Beschwerden.

Wie viele andere das Handtuch zu werfen und den Beruf aufzugeben, kommt für Wheeldon trotzdem nicht in Frage. »Ich finde meinen Beruf unglaublich wichtig. Wir geben Menschen ihre Selbstständigkeit zurück und ermöglichen ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.« Damit seien Physiotherapeut*innen ein wichtiges Standbein im Gesundheitswesen. »Wir wollen den Beruf erhalten. Aber es muss einfach etwas passieren«, sind sich Wheeldon und Seidel einig.

Als die Demonstration mit Initiator Heiko Schneider an der Spitze nach fast zwei Stunden am Bundesgesundheitsministerium ankommt, werden die Fahrer*innen lautstark von etwa 100 weiteren protestierenden Kolleg*innen empfangen. Sie wollen dabei sein, wenn Schneider seinen Brandbrief mit der Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen und die zwei großen Ordner voller Zuschriften von Kolleg*innen aus ganz Deutschland dem Ministerium übergibt, zu Händen des Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU).

Doch schon nach wenigen Augenblicken kommt Schneider wieder aus dem Gebäude. Im Ministerium sei kein Verantwortlicher vor Ort, um die Briefe entgegenzunehmen. Stattdessen sollen nun alle einzeln per Post zugestellt werden. »Da werden sicher jeden Tag ein Haufen Briefe auf Spahns Schreibtisch landen«, mutmaßen Seidel und Wheeldon nach der Kundgebung. Enttäuscht sind sie nicht, halten die Aktion dennoch für gelungen: »Wir werden sie auf jeden Fall weiter unterstützen.«