nd-aktuell.de / 07.06.2018 / Politik / Seite 8

Die Regierung handelt verfassungswidrig

María Teresa Castilblanco über die anhaltenden Proteste in Nicaragua gegen Präsident Daniel Ortega

Evelyn Linde

Die Menschen in Nicaragua protestieren seit über einem Monat gegen die Regierung von Präsident Daniel Ortega und seiner Frau Rosario Murillo. Inzwischen gibt es über 100 Tote. An welchem Punkt befinden sich die Proteste heute?

Der Protest hat Aufs und Abs. Mitte Mai war der Protest stärker. Aufgrund der Repression und der Gefahr an den Straßenblockaden ist die Anzahl der Personen, die auf der Straße sind, jetzt etwas runtergegangen. Nichtsdestotrotz wird das Bewusstsein, dass die Regierung zurücktreten soll, immer stärker.

Die katholische Kirche setzte Ende Mai den von ihr moderierten Dialog zwischen Studierenden, der Zivilgesellschaft, Unternehmensverbänden und der Regierung nach nicht mal einer Woche aus. Was bedeutet das?

Das war eine sehr schlechte Nachricht für alle, denn es bedeutet, dass die Repression stark ansteigen kann. Wir haben nichts, dass einen Dialog mit guten Ergebnissen garantiert. Nur die Kirche ist in der Position, die Rolle der Mediation einzunehmen. Die Bischofskonferenz setzte den Dialog aufgrund der vielen Drohungen, die die Bischöfe erhalten hatten, aus. Außerdem setzen sie für den Dialog voraus, dass die Regierung ernst zu nehmende Bereitschaft zur Lösungsfindung zeigt. Um den Dialog fortzuführen, benötigen wir außerdem internationale Unterstützung - anerkannte internationale Vertreter, die am Dialog teilnehmen.

Warum brachte der Dialog bisher keine Ergebnisse?

Die Regierung meint, die Forderungen seien zu radikal. Gefordert wird die Demokratisierung des Landes. Wir sagen, dass es möglich ist, die Verfassung zu reformieren, um demokratischer zu sein, die Gewaltenteilung durchzusetzen und die Amtsträger zu wechseln. Die Regierung sagt, dies sei verfassungswidrig. Dabei sind sie eine verfassungswidrige Regierung. Sie haben die Verfassung reformiert und verletzt. Das, was sie als verfassungstreu bezeichnen, ist eine subjektive Auslegung, um nicht von der Macht abzulassen.

Was hat sich seit dem Ausbruch der Proteste verändert?

Die landesweite Präsenz bei den Blockaden der Fernverkehrsstraßen hat abgenommen, denn es gibt eine große physische Erschöpfung. Es gibt nicht so viele junge Menschen, die permanent dort sein können. Und ihre Mütter haben darauf bestanden, dass die Jugendlichen nach Hause kommen. Die Frauenbewegung kritisierte, dass sie sich an den Barrikaden nachts zu sehr exponieren. Das führt zu mehr Toten, denn nachts sind sie ein leichteres Ziel für die Schützen. Die Jugendlichen haben das erkannt und räumten viele der Barrikaden, protestieren aber weiter. Die Bauernbewegung hingegen, die gegen das interozeanische Kanalprojekt kämpft, bewegt sich von den Barrikaden nicht weg. Da die Straßenblockaden aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen den größten Druck auf den Staat aufbauen, sind es die Orte, die die Regierung am stärksten angreift. Die Regierung formiert sich nicht nur militärisch gegen die Protestierenden, sondern auch mit Verleumdungskampagnen gegen die Bewegung.

Wie erklären Sie, dass sich die Privatwirtschaft und Kirche inzwischen gegen Ortega stellen?

Unabhängige Bischöfe wie Rolando Álvarez und Silvio Báez kritisierten die Regierung schon immer. Unter den Unternehmern sind Rechte, Reiche, die religiös sind und auf die die Kirche Einfluss hat. Außerdem sehen sie, dass Ortegas Maßnahmen auch für sie ungünstig sind, beispielsweise mit der Erhöhung der Arbeitgeberabgaben bei der ursprünglich geplanten Rentenreform. Sie verfolgen ihre Interessen und stellten fest, dass es für sie besser ist, sich auf die Seite der protestierenden Menschen zu stellen.

Aus meiner Perspektive ist es sehr beachtlich, dass so unterschiedliche Gruppen trotz Differenzen gemeinsam handeln. Es wirkt jedoch befremdlich, dass der Protest sich so stark auf die Nation bezieht. Was steht dahinter?

Momentan kämpfen wir für Nicaragua. Für den Frieden und die Gerechtigkeit für die nicaraguanische Bevölkerung. Es ist nicht wichtig, dass wir zum Beispiel mit der Kirche Differenzen haben. Wichtig ist jetzt, für die Gerechtigkeit zu kämpfen. Wir haben einen Weg gefunden, den Kampf gemeinsam zu führen. Es ist ein wenig nationalistisch, aber jetzt ist es ist die beste Waffe. Es geht nicht um Nationalismus, sondern um eine Strategie für nationale Einigkeit gegen den Diktator.

Sie leben in Matagalpa und erzählten mir, dass regierungstreue Gruppen durch die Wohnviertel ziehen und bei den Menschen klingeln. Sie versuchten so, Ihren Mann einzuschüchtern. Wie beeinflusst der seit Wochen anhaltende Widerstand Ihren Alltag?

Im Alltag wird viel gemunkelt, wer dich überwacht und verrät. Es herrscht Angst und Misstrauen. Ich persönlich fühlte in meinem Viertel Einsamkeit, da ich es betrat und dachte, ich kann hier nicht offen sprechen. Ich weiß nicht, ob die Menschen auf der Regierungsseite stehen. Eines Tages fegte jedoch ein Nachbar die Straße und ich fragte ihn, was er denkt. »Dieser Mann muss gehen. Er hat zu viel angerichtet, und Daniel und Chayo (Ortega und Murillo) müssen gehen«, antwortete er. All das sagte er mir sehr leise. Das freute mich sehr, denn er erschien mir bis dahin passiv und meinungslos. Es gibt Menschen, die sich aus den Protesten raushalten, aber sie stimmen den Forderungen zu. Es gibt Hoffnung, dass diese Menschen da sind, auch wenn nicht so sichtbar.

Die sozialen Bewegungen bezeichnen Ortegas Regierung, die sich selbst als links versteht, auch als rechts und neoliberal. Welche Rolle spielen die klassischen rechten Parteien?

Ein Teil der Protestierenden ist anti-sandinistisch und wollte Ortega nie. Sie haben sich also den Protesten angeschlossen und versuchten, für sich zu werben. Die Menschen bestehen jedoch darauf, dass diese Proteste eine Aktion für Nicaragua und nicht für die Parteien sind. Ihnen wurde direkt gesagt, dass der Protest keine Kampa-gne der liberalen oder rechten Parteien ist. Diese hoffen, an die Macht zu kommen.

Was ist die Alternative zu Ortega, wenn es Neuwahlen gäbe?

Es gibt keine Person, die wählbar ist. Deswegen ist einer der Vorschläge im Dialog, eine Übergangsregierung einzurichten bis zu den Neuwahlen. Diese Übergangsregierung sollte kurzfristig einberufen werden, um eine bessere Repräsentation der Menschen in Nicaragua zu erlangen.

Sind Sie optimistisch, dass die Linke sich auf parlamentarischer Ebene organisiert, um wählbar zu sein? Oder ist es wahrscheinlicher, dass eine rechte Partei an die Macht kommt?

Es kann sein, dass viele Abgeordnete von der Rechten oder Wirtschaft kommen. Aber ja, wir glauben, dass es in der studentischen Bewegung, der Bauern- und Frauenbewegung die Kapazitäten gibt, um eine gute Repräsentation zu erlangen. Die Idee ist, sich zu organisieren, und in den Bewegungen gibt es sehr gute Personen, die gewählt werden können. Die Regierung wird vielleicht nicht vollständig von einer linken Partei gestellt werden, aber sie wird eine viel bessere Alternative zu der jetzigen sein; einer Regierung, die auch nicht links ist.