nd-aktuell.de / 08.06.2018 / Politik / Seite 14

Arztkarriere trotz Kindermord

Studie in Niedersachsen belegt: Für »Euthanasie«-Mediziner gab es nach 1945 gute Positionen im Landesdienst

Hagen Jung

Luminal ist in der Spritze, mit der sich Schwester Dora im Herbst des Jahres 1941 in der psychiatrischen Heilanstalt Lüneburg einem Bett auf der Mädchenstation nähert. Das starke Schlafmittel, das die Frau der kleinen Patientin gleich injiziert, soll dem Kind nicht etwa eine ruhige Nacht, sondern den Tod bringen. Angeordnet hat das Dr. Willi Baumert.

Er war einer jener Mediziner, die zur NS-Zeit ihren Hippokratischen Eid, Leben zu bewahren, mit Füßen traten. Ein hitlerhöriger Mediziner, einer jener Ärzte, die trotzt ihrer Untaten in Nachkriegsdeutschland Karriere machten. An einige erinnert jetzt eine Arbeit, die der Kulturwissenschaftler Christof Beyer, Experte für Psychiatriegeschichte, im Auftrag des Niedersächsischen Sozialministeriums erstellt hat.

Willi Baumert, zuvor als Arzt in Hitlers Terrortruppe SS tätig, leitete in der Lüneburger Anstalt die »Kinderfachabteilung«, kurz KFA genannt. Harmlos klingt das. Doch eine solche KFA - davon gab es damals über 30 in Deutschland - hatte nur eine Aufgabe: Behinderte und kranke Menschen zu ermorden, die im Wahn der NS-Ideologie als »lebensunwertes Leben« galten. Von »Gnadentod« war die Rede, von »Euthanasie«, zu deutsch: »Schöner Tod«. Diesem Mordprogramm fielen allein in Lüneburg 376 Kinder zum Opfer. Bestraft wurde Baumert für seine Tötungsbefehle nie. Vielmehr ging es für ihn beruflich bergauf in der Bundesrepublik. Schon 1953 wurde er »erster Oberarzt« im Beamtenrang und »Medizinalrat« an der Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf, einer psychiatrischen Klinik nahe dem Steinhuder Meer in Niedersachsen. Fünf Jahre später thronte der Mann als ärztlicher Direktor im Chefzimmer des Landeskrankenhauses Königslutter. Zugleich fungierte er als Vorsitzender des Verbandes Niedersächsischer Neurologen und Psychiater.

Zwar hatte sich die Staatsanwaltschaft in den 1960er Jahren bemüht, Baumerts Handeln durch ein Strafverfahren zu ahnden, doch: Der Mediziner wurde herzkrank. Und wegen »schlechten körperlichen und seelischen Zustandes« setzte das Oberlandesgericht die Strafverfolgung gegen den Mann aus, den manche den »Herodes von Lüneburg« nannten - in Anlehnung an den biblischen Kindermörder. Er starb 1984.

So wie Baumert gelangten weitere Täterinnen und Täter der »Euthanasie«-Morde in den 1950er Jahren an niedersächsischen Landeskrankenhäusern in leitende Positionen. Oder sie konnten relativ ungestört in einer Praxis arbeiten. »Schockierend« sei es, so Sozialministerin Carola Reimann (SPD), dass diese Mediziner nach 1945 weiter Patientinnen und Patienten behandeln durften, als wäre nichts gewesen. »Hier haben staatliche Organe versagt«, betonte die Politikerin, als sie die Studie vorstellte. Umso wichtiger sei es, dass diese Missstände aufgearbeitet und öffentlich gemacht werden. Das sei als Mahnung zu verstehen, denn: »Ein menschenverachtendes Weltbild hat in der Medizin nichts zu suchen«, unterstrich Reimann. Die jetzt vorgelegte Studie mit dem Titel »Personelle Kontinuitäten in der Psychiatrie Niedersachsens nach 1945« ist im Internet abrufbar. Das Sozialministerium gab inzwischen eine weitere Studie in Auftrag: zu Medikamentenversuchen an Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Heimerziehung. Die Ergebnisse werden für 2019 erwartet.

Die Studie im Internet unter: www.ms.niedersachsen.de/themen/gesundheit/psychiatrie_und _psychologische_hilfen/versorgung-psychisch-kranker-menschen-in-niedersachsen-14025.html