nd-aktuell.de / 12.06.2018 / Sport / Seite 19

Die FIFA testet Transparenz

Erstmals sollen 35 Kameras und ein 3D-System die WM-Schiedsrichter vor Fehlern bewahren

Daniel Theweleit, Moskau

Wie ein finsterer Keller, in dem irgendeine Willkürherrschaft über Sieg und Niederlage entscheidet, sieht der Arbeitsplatz der Videoassistenten im Moskauer Strogino Distrikt wahrlich nicht aus. Ein freundliches Rot-Blau dominiert das TV-Studio, in dem Unparteiische während der Fußball-Weltmeisterschaft strittige Szenen untersuchen werden. Es herrscht eine ruhige, konzentrierte Arbeitsatmosphäre. In großen Teilen des deutschen Bundesligapublikums hat sich ja das Bild einer zwielichtigen Gruft verfestigt, in der unsichtbare Menschen auf schwer durchschaubare Art den Ausgang von Fußballspielen beeinflussen. Bei der WM in Russland soll das anders werden, viel besser.

»Ich bin zwar etwas angespannt, aber auch guter Dinge, dass sich die Arbeit auszahlen wird, die in den vergangenen Monaten in den Videobeweis gesteckt wurde«, sagt Lukas Brud wenige Tage vor dem ersten WM-Einsatz der neuen Technologie. Brud ist Geschäftsführer des International Football Association Board, das über die Fußballregeln wacht. Er ist also mitverantwortlich für die Neuerungen, die den Videobeweis in Russland zu einer weniger heftig umstrittenen Hilfe für die Schiedsrichter auf dem Platz machen sollen.

Dafür ist mächtig aufgerüstet worden: In Deutschland hatten die Videoassistenten je einen beratenden Helfer neben sich, bei der WM werden es drei sein. Es werden also je vier Regelexperten die Bilder von 33 TV- und zwei nur zu diesem Zweck installierten Abseitskameras begutachten, um am Ende zu einer gemeinsamen Entscheidung zu finden.

Die neuen Kräfte sollen allerdings noch andere Aufgaben erledigen als die bloße Interpretation von Wiederholungen und Zeitlupen. Der Weltverband hat sich zu einem Wagnis entschieden, zu dem den deutschen Unparteiischen bisher der Mut fehlt. Die Orientierungslosigkeit, die oft herrscht, wenn wieder mal niemand weiß, was nun überprüft wird, und warum ein Tor doch nicht gilt, soll durch eine neue Kommunikationsstrategie bekämpft werden. Einer der Assistenten setzt standardisierte Textbausteine zusammen, die auf die Stadionleinwände und an die TV-Stationen übermittelt werden können.

So sollen die Hintergründe der einzelnen Entscheidungen nachvollziehbar werden. »Bei der WM will die FIFA sicherstellen, dass alle wissen, was passiert«, sagt Brud. Transparenz sei hier ein zentrales Motiv des Weltverbands, deshalb werden auch die »Situationen, die die Videoassistenten dem Schiedsrichter am Rand des Platzes am Bildschirm zeigen, auf der Videowand zu sehen sein«, beschreibt Bastian Dankert eine weitere Neuerung. Der Rostocker ist neben Felix Zwayer einer von zwei deutschen Videoassistenten, die in Russland im Einsatz sein werden. »Es ist dreimal besser, dass die Fans über diese Situation kontrovers diskutieren, als wenn sie gar keine Wahrnehmung zu einem Entscheidungsprozess haben«, sagt Dankert.

Die vielleicht wichtigste Verbesserung wird es aber an anderer Stelle geben. So soll es eine Technik geben, die, sofern sie nicht versagt, Abseitssituationen zweifelsfrei nachweisen könne, und das nicht nur mit ins Bild montierten Linien. Vielmehr wird ein »3-D-Abseitsliniensystem« generiert, das anhand der Daten mehrerer Kameras berechnet wird. So lässt sich darstellen, ob beispielsweise ein Kopf oberhalb des Rasens die Abseitsstellung einer Fußspitze am Boden aufhebt, was im Gegensatz zu den per Hand von den TV-Anstalten erstellten Abseitslinien tatsächlich zu einer schlüssigen Bewertung solcher Szenen taugen könnte. Angeblich jedenfalls.

»Noch ist nicht alles perfekt, aber wir werden sicherlich keine schlimmen Fehler erleben, wie ein übersehenes Abseits von drei Metern oder ein Elfmeter nach einem Foul außerhalb des Strafraums«, prognostiziert FIFA-Präsident Gianni Infantino. Jede Menge Diskussionen wird es natürlich trotzdem geben.

Die 13 Videoassistententeams verfügen zwar über Erfahrungen mit der Technik aus ihren heimischen Ligen, aber die Schiedsrichter auf dem Rasen kommen mehrheitlich aus Ländern, in denen der Videobeweis noch nicht zum Einsatz kam.

Für alle Unparteiischen könnte die Last, in einem wichtigen WM Spiel vor einem stark emotionalisierten Publikum zur Außenlinie zu laufen, um dort eine Szene zu bewerten, erdrückend sein. Sie entscheiden schließlich nicht mehr über ein paar Punkte im Ligaalltag, sondern müssen anhand von manchmal mehrdeutigen Bildern Urteile fällen, die ganze Nationen in tiefe Trauer stürzen können. Es wird spannend, ob unter diesem Druck schlüssige Bewertungen möglich sind.