Kind mit drei Armen

Bianca Bellová folgt einer düsteren Vision

  • Reiner Neubert
  • Lesedauer: 2 Min.

Die Handlung beginnt in einem Fischerdorf am Ufer eines Sees, der auszutrocknen droht. Nami wächst zunächst bei seinen Großeltern auf, die ihn behüten. In der Schule gehört er zu den Besten. Seine Mutter kennt er nicht, aber es schwirren viele Gerüchte über sie umher. Da das Fischkombinat schließen musste, gehen die Bewohner einer ungewissen Zukunft entgegen, zumal sich auch die sowjetischen Besatzer davongemacht haben, die für Arbeit und Ruhe sorgten. Die Plattenbauten stehen leer, ebenso wie die Post, die Kioske, die Schule und die Klinik.

Als Namis Großvater plötzlich im See verschwindet, seine Oma stirbt, das Wohnhaus vom Kolchosvorsitzenden und seiner Familie okkupiert wird, die ihn drangsalieren, beschließt der mittlerweile 12-Jährige zu fliehen, auch weil viele der Kinder ringsum Hautkrankheiten haben und das Baby des Vorsitzenden gar mit drei Armen zur Welt kam. Verseucht ist nicht nur die Umwelt, sondern auch die Kommunikation. So folgt man Namis Weg in die Stadt, wo er zum Hilfsarbeiter in der Schwefelproduktion mutiert, mit Jungkapitalisten zusammenkommt und als nunmehr 17-Jähriger an eine alte Dame gerät, die sich seiner annimmt, ihm Arbeit verschafft und ihm von den Intrigen und korrupten Machenschaften erzählt, die das vormals harmonische Leben im Land zerstört hätten. Von ihr erhält er sogar einen Tipp, wer seine Mutter sei und wo sie sich befinden könnte. Aber damit ist die spannende, durchaus düstere Handlung noch nicht zu Ende ...

Die Geschichte ist stringent erzählt. Viele derbe Dialoge, die leider mitunter ins Vulgäre abgleiten, unterstützen den dramatischen Gestus. Auch wenn man aus den Details (Schwefel, Baumwolle, Kamele) entnehmen mag, die Handlung spiele in einem Land Vorderasiens, das einst zur UdSSR gehörte, ist der Text eher als Gleichnis zu verstehen. Es ist ein Bild allgemeinen moralischen Verfalls. Was da erzählt wird von einer möglichen Umwelt-Apokalypse, den Zusammenstößen zwischen radikalen Vertretern religiöser Strömungen, von aufgebrachten, durchaus gewaltbereiten Massen, ist brennend aktuell.

Bianca Bellová: Am See. Roman. Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch. Kein & Aber, 231 S., geb., 20 €.

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