nd-aktuell.de / 22.06.2018 / Politik / Seite 6

Kurz vorm Abgrund

Stefan Otto

Natürlich hat Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) recht, wenn sie sagt, der erbitterte Streit zwischen den Unionsparteien schade dem Ansehen der Bundesregierung. Sie verweist auf den Koalitionsvertrag, der wichtige Vorhaben beinhalte, die abgearbeitet werden sollten. Barley scheint sich nach nichts mehr als dem routinierten Alltag im Berliner Regierungsviertel zu sehnen. Der ist aber derzeit nicht in Sicht.

Stattdessen reden alle über den Asylstreit zwischen CDU und CSU. Zuweilen wird schon spekuliert, ob er nicht längst Formen einer Privatfehde zwischen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU) angenommen habe. Ein Ultimatum habe Seehofer der Kanzlerin gestellt, heißt es. Wenn nicht bis Anfang Juli eine Regelung für die Flüchtlinge getroffen werde, die bereits in einem anderen EU-Land Asyl beantragt haben, werde er sie eigenmächtig an der Grenze abweisen. Doch das würde ziemlich sicher das Ende seiner Amtszeit als Innenminister bedeuten. Merkel pocht nämlich auf eine europäische Lösung und hat in ihrer unspektakulären Art auf ihre Richtlinienkompetenz hingewiesen. Mit nur einem Satz hat sie klargestellt, dass sie die Regierungschefin ist und im Zweifel auch handeln wird.

»Dass sich CDU und CSU miteinander verhaken, ist nicht neu«, sagte Barley als koalitionsinterne Beobachterin - und betonte zugleich, dass man Fantasie brauche, »um zu sehen, wie sie wieder zueinander kommen könnten«.

Das ist aktuell tatsächlich nur schwer vorstellbar. Doch wird Merkel tatsächlich die Reißleine ziehen und sagen, die Zusammenarbeit mit Seehofer sei gescheitert - wohl wissend, dass dann auch die Koalition zerbrechen wird? Und das jahrzehntelange Unionsbündnis auch. Die politischen Folgen sind also kaum absehbar.

Als möglichen Koalitionspartner haben sich die Grünen ins Spiel gebracht. Die Liberalen befürworten bei einem Scheitern der Koalition eher Neuwahlen. Denkverbote erteilen sich beide Parteien diesbezüglich nicht. Warum auch? Sie haben nichts zu verlieren. Und wie ein Aussteigen funktioniert, das haben beide bereits erfahren.

Schließlich war nach der Bundestagswahl im vergangenen September anfangs ein schwarz-gelb-grünes Jamaika-Bündnis geplant, und FDP-Chef Christian Lindner brach die festgefahrene Sondierung im November krachend ab.