nd-aktuell.de / 26.06.2018 / Kultur

Gute Rasur, das Prunkstück ist ab

Komische Oper Berlin: Barry Kosky inszenierte Dmitri Schostakowitschs Oper »Die Nase«

Stefan Amzoll

Alle blicken auf den Vorhang. Ruhe im Orchestergraben. Es ratscht hin und her, wie im Gruselfilm. Der Barbier wetzt das Messer. Büchners »Woyzeck« lässt grüßen. Es geht an die Wange des Kunden. Was wird passieren? Gute Rasur? Das Ohr ab? Nee, die Nase, dieses Prunkstück schlechthin am Menschen. Wehe drum, sie ist krumm und narbig. Was aber, wenn das Organ plötzlich ab, ist weggeratscht, unauffindbar? So läuft Günter Papendell, bewunderter Hauptsänger der Oper, beinahe die ganze Zeit über nasenlos herum und singt sich verzweifelt die Kehle aus dem Hals. Straff militärisch sieht sein Platon Kusmitsch Kowaljow aus, seines als Kollegienassessor angesehener Amtmann im Zarenreich, nun verschandelt wie die Krüppel der Straße. Welch Schrecken muss den Unglücklichen durchzuckt haben, als er nach einer Saufnacht morgens ohne Nase im Gesicht aufwachte? Übrig nur noch ein Blutfleck. O je. Kein Rotzen und Schnauben mehr, kein wohliger Rauch in den Nüstern. Und erst der Verlust an Würde und Ehre im privaten wie amtlichen Leben als Folge der Verstümmelung? Wo ist die Nase? Wie der uniformierte russische Depp, zappelnd, zitternd, in Fisteltönen seine Angst aussingend, jagt er nach dem Ding.

So grotesk die Geschichte der »Nase«, komponiert nach der gleichnamigen Erzählung von Nikolai Gogol, so grotesk die Aufführung der Komischen Oper. Lärmend, in Gestalt fratzenhafter Arien und Ensembles, aggressiver Tänze, röhrender Instrumente und aufgestachelter Chöre geht das zweistündige Werk über die Bühne. Barry Kosky inszenierte den dreiaktigen irren Gesellschaftsspuk höchst farbig, prall, laut, verrückt, showmäßig. So zu verfahren, entspricht seinem Naturell. So will er die Bühne haben, darauf ein phantastisches Ensemble all sein Können herauslässt. Und es ist fantastisch.

Zwei urkomische russische Seelen, der Barbier Iwan Jakowlewitsch (Jens Larsen) und seine Frau Praskowja Ossipowna (Rosie Aldridge), finden die Nase kurioserweise in der Küche mitten im Brotteig. Die Hände zittern bei dem Versuch, es anzufassen. Trotzdem schnell weg damit. Jedoch nicht im Müll landet die Nase, sondern sie flüchtet geradewegs in die zaristische Gesellschaft und verunsichert dieselbe gewaltig. Schnell individualisiert das gute Stück, führt fortan ein Eigenleben, vervielfacht sich, spaziert als Riesengebilde, gestülpt über die Schultern von Barfüßigen (ein Kind darunter), in Reih und Glied durch Moskau, sprich: über die Bühne, zum Gaudium der Zuschauer. Komisch die Gänge dieser schlafwandelnden, unschuldigen, niedlichen Monstren. Geschart darum eine buntscheckige Bürgeransammlung aus Angestellten, Adligen, Dandys, Dienern, Ordnungshütern, allesamt Narren, denen die Jagd nach der Nase selber in die Glieder fährt. Die übelsten Töne entspringen den Kehlen dieser Meute (Chöre David Cavelius).

Ein Rondell mit verziertem Rand, darüber eine Lampe, halb schwarz, halb weiß, aus dem 19. Jahrhundert, dient als Träger der jähen Aktionen (Bühnenbild und Licht Klaus Grünberg). Und die sind zuweilen schriller als schrill. Allein schon die Musik sorgt für Atmosphären aus Dampf und Galopp. Eine Kaskade nach der anderen schleudert das Orchester heraus. Musik erklingt, die sich lustig macht, die zuspitzt, die kein Pardon kennt, die das Klischee angreift, die noch die beliebteste Folklore jäh zerpflückt. Revue passieren Tänze der Straße, Varietémusik, Polka, Shimmy aus Übersee, die ungelenke russische Jazznummer, Trauermärsche, Estradenmusik. Montagehaft zusammengesetzt von einem 21-Jährigen mit Theaterblut unter der Haut. Genial diese Partitur, komponiert im Zeichen der von der Geißel der Bürokratie nicht loskommenden Revolution, uraufgeführt 1930 in Moskau. Einflussreich die Version unter Juri Ljubimow, die das Teatr Wielki im Warschau der 1970er Jahre hervorbrachte. In der DDR inszenierte vor fast 50 Jahren Erhard Fischer »Die Nase« an der Lindenoper. Peter Mussbach schuf 2002 am selben Haus eine weitere interessante Fassung.

Nun die Aufführung der Komischen Oper. Ainärs Rubikis bringt mit dem vielerlei kammermusikalisch und solistisch arbeitenden Hausorchester das ganze Ordinäre, Kreatürliche der Noten überzeugend zur Geltung. Einziger Wirbel die Choreografie gleich zu Beginn. Unter aufgeregten Klängen lässt eine bunt-erotisch betuchte Tanzgruppe auf dem Rondell ihren ganzen Aktionismus heraus (Choreografie Otto Pichler, Kostüme Buki Shiff). Bisweilen geht es in den Massenszenen chorisch so laut her, dass kaum noch ein Instrument vernehmlich ist. Fast an jeder Stelle streut die Aufführung Gifte und grimmige, belfernde Kommentare aus. Es gibt kaum Ruhepunkte. Urkomisch der Vorgang, wo der Arzt (Jens Larsen) versucht, dem Unglücklichen die unterdes aufgefundene Nase ins Gesicht zu setzen. Sie haftet nicht.

Das Ende versöhnt scheinbar. Platon Kusmitsch Kowaljow erhält seine Nase zurück. Die Arbeit des Assessors wartet schon. Seine Geliebte mit Mutti wendet sich ihm wieder zu. Ist drum alles wieder am richtigen Ort? Unversöhnlich das Verhältnis zwischen Revolution und Bürokratie.

Nächste Aufführungen: 28., 30. Juni, 6. und 14 Juli. Komische Oper, Behrenstraße 55-57, Mitte