nd-aktuell.de / 29.06.2018 / Berlin / Seite 12

Zwangsheirat statt Urlaub

Arbeitskreis verteilt Informationen zu Zwangsverheiratung in den Sommerferien

Florian Brand

»Hol einen Strick, heute wird sie nicht mehr leben, wir werden sie aufhängen.« Mit diesen Worten zwang der Vater von Serap das junge Mädchen vor einigen Jahren in eine Heirat. In einer Broschüre des Berliner Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung beschreibt das Mädchen, das im wirklichen Leben anders heißt, ihre Erlebnisse in der eigenen Familie. »Er schlug so hart, dass ich überall blaue Flecken hatte und man mein Gesicht nicht mehr erkennen konnte.« Zwei Wochen vor der Zwangshochzeit wurde sie in der Wohnung ihres Bruders eingesperrt. Sie konnte entkommen. Noch heute hat das Mädchen deswegen Todesangst vor ihrer eigenen Familie. »Ich habe keine Hoffnung, dass meine Eltern sich ändern werden«, schreibt sie.

Fünf Lebensgeschichten junger Mädchen, die bereits minderjährig von ihrer Familie verheiratet wurden, listet der Berliner Arbeitskreis Zwangsverheiratung auf. Hinzu kommen Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten, zahlreiche Hilfs- und Beratungsangebote, eine Übersicht über Zufluchts- und Kriseneinrichtungen sowie die Handlungsempfehlung für die Berliner Jugendämter »Intervention bei Gewalt gegen Mädchen und junge Frauen in traditionell-patriarchalen Familien«.

»Es ist wichtig, so kurz vor den Sommerferien vor allem Lehrer und Sozialarbeiter darauf aufmerksam zu machen, die das Thema Zwangsehe in ihrer Lebenswirklichkeit gar nicht auf dem Schirm haben«, sagt Sara Lühmann, Pressesprecherin des Bezirksamtes Friedrichshain-Kreuzberg.

Viele Betroffene schwanken zunächst längere Zeit zwischen dem Wunsch, es den Eltern recht zu machen, und dem Bedürfnis, selbst über die eigene Zukunft entscheiden zu können. Nicht selten zögerten sie lange, bevor sie sich an Dritte um Hilfe wenden. »Oberste Priorität ist es demnach, ihnen Schutz und Verschwiegenheit, nötigenfalls auch anonyme Beratung zuzusichern«, heißt es in der soeben in einer Neuauflage erschienenen Broschüre.

Einer nicht-repräsentativen Umfrage des Arbeitskreises aus dem Jahr 2013 zufolge war die Altersgruppe 18 bis 21 Jahre mit 38 Prozent am stärksten von Zwangsheirat betroffen. Doch wurde auch jede fünfte Befragte 16- bis 17-Jährige zwangsverheiratet. »Erschreckend ist, dass selbst in der Gruppe der 10- bis 12-Jährigen Fälle von sowohl drohender als auch vollzogener Zwangsverheiratung bekannt wurden«, heißt es in der Studie. Insgesamt sei ein Drittel der Betroffenen minderjährig und somit im schulpflichtigen Alter. Über 57 Prozent der Zwangsverheiratungen finden im Ausland statt, größtenteils während der Ferien. Dies betreffe vor allem migrantische Kinder aus patriarchalen Strukturen. In manchen Fällen werde ein Urlaub in der Heimat der Eltern beispielsweise zum Anlass genommen, eine Heirat durchzuführen, sagt Lühmann.

Laut dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF werden jedes Jahr weltweit mehrere Millionen Mädchen vor oder kurz nach ihrer Pubertät verheiratet. Jede vierte Frau auf der Welt (750 Millionen) wurde demnach als Minderjährige verheiratet. Seit 2011 ist die Zwangsverheiratung ein Straftatbestand.