Er gehört der zweiten Künstlergeneration an, die Mitte der 1960er Jahre in Leipzig antrat und den Ruf dieser Stadt in Sachen Malerei und Grafik mit prägte. Als Schüler des Altmeisters Bernhard Heisig, beeinflusst von der Neuen Sachlichkeit und dem Expressionismus, mit kritisch-ironischer Aufmerksamkeit dem Alltag begegnend, entwickelte Sighard Gille neue Formen des Realismus. Die Beziehungen der Menschen suchte er als Formbeziehungen sichtbar zu machen - und das führte ihn zu neuartigen Bildlösungen. Eine impulsiv schreibende Malerei, so könnte man meinen, aber er muss sie auch »bauen, bis sich was entwickelt in diesem Leinwand-Geviert«. Er erprobte neue Techniken, strich die Leinwand mit Eitempera ein und malte in die noch nasse Farbe mit Öl hinein. »In der Farbe habe ich die Gegenständlichkeit versteckt, die ich ja nie verlieren wollte und nie aufgegeben habe«, sagt der Künstler und hebt unter dem Gelb, Karmin, Purpur, Pink besonders die »vielen Gelbvarianten zum Blau« hervor.
Die Galerie Kunst am Gendarmenmarkt hat Gille nach Berlin geholt und zeigt von ihm Figurenbilder, Akte, Köpfe (es sind keine Porträts), Landschaften aus der Leipziger Umgebung und der Havelgegend, aber auch ein Stadtbild »New York, Midtown« (Öl, Collage), ein Diagramm von jener Kraft und Ordnung, die man unter dem täglichen Chaos dieser Metropole erkennen kann. Aus körnigen Strukturen entstehen die ersten Andeutungen formal sich ordnender Gestaltbezüge, aus denen Figürliches - der menschliche Körper - oder Landschaftliches hervorgehen. Mitunter erweitert sich die Bildfläche zum Relief, lässt flächenhafte Formelemente, die gemalt begonnen wurden, plastisch enden.
Die Farbfläche wird verletzt, überstrichen, neu aufgebrochen, es entstehen Schicksalbilder, wie alte Mauern ihr Schicksal haben. Eine neue Gegenständlichkeit entsteht. Mitunter setzt Gille, wie in »New York, Midtown«, Raster, Kunststoffteile als Realität in seine Bilder ein und bindet sie durch eine körnig strukturierte Umgebung so in die Fläche, dass diese objets trouvés völlig im Bild absorbiert und nicht mehr als Fremdkörper im Bild wahrgenommen werden.
Wie geisterhaft, zumindest aber vexierbildhaft tauchen die gegenständlichen Motive auf. Solche Vexierbilder, die sich das Auge aus nebelhaften Formeln, aus den Farben und Formen zusammensucht, sind eine aus der Psychoanalyse bekannte Erscheinung. Bei Gille verhält es sich aber genau umgekehrt: Gegenständliches und Physiognomiehaftes werden vom Künstler in den gegenstandslosen Formenablauf impliziert. Dabei sind solche scheinbar halluzinatorischen Figurenbilder, die wie Erinnerungsbilder anmuten, immer nach dem Modell - ein und demselben Modell - entstanden. Wie absichtslos tauchen die Gestalten aus dem Amorphen auf, sie sind voller Einfälle, voller Geschichte, ein Element wächst aus dem anderen heraus.
Seine Figuren, seine nackten, in schwellenden Formen bewegten Körper baut er in einen engen Bühnenkasten ein und rückt sie übernah an das Auge des Betrachters. Dadurch ergeben sich divergierende, voneinander unabhängige Blickpunkte auf einzeln zu sehende Bildelemente, welche jedoch durch lineare Bezüge zu einem übergeordneten Raumkontinuum verbunden werden.
Für Gille gibt es keine strikte Trennung zwischen dem gegenständlichen und dem ungegenständlichen Bereich, für beide entwickelt er eine Sprache von unerhörter Sensibilität. Es gelingt ihm, die organische Linie, die den menschlichen Körper umgrenzt, und die ihren eignen Weg verfolgende Linie auf einem einzigen Bild zusammenzufügen. Wie die Materialteile, die er als objets trouvés seinem Bild einfügt, so erscheint ihm auch das Bild der Frau als ein objet trouvé, als das wiedergefundene Menschenbild, und er bindet es in der Fläche ein. Es sind die Körper, die mit ihren Gesten den Bildraum schaffen.
»Es ist schon aufregend, Haut zu malen. Sie kann zur Landschaft werden«, sagt Gille. Auch die Natur biete ständig erotische und sexuelle Formen an. Die Landschaft scheint mit unendlich vielen Zeichen die Leinwand fast zu zersprengen und die Blau-, Fliedergrau-, Weiß- und Silbertöne werden genauso beredt wie die Farben seiner Bilder. Höhe, Weite und Tiefe sind die Phänomene, die der Künstler auf eine Ebene übertragen muss, um sich vor der Unendlichkeit des Raumes zu schützen.
Die Gestaltung aus der Materie heraus bedeutet, dass das Ungeformte bis ins letzte Detail durchformt sein muss, gemäß der Logik seiner materiellen Gesetzlichkeit. Überall ist die Farbe in Aktion, nirgends aber wird eine unbestimmte, ungestaltete Farbe geduldet. Nur so kann das Bild gleichnishaften Charakter gewinnen, der die ihm innewohnende Kraft veranschaulicht.
Bis 17. Juli, Galerie Kunst am Gendarmenmarkt, Mohrenstr. 30, Eingang Markgrafenstraße, Mitte
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1093425.haut-die-zur-landschaft-wird.html