nd-aktuell.de / 07.07.2018 / Politik / Seite 23

»Wir alle sind das Proletariat«

Der Informatiker Timo Daum über Marx und Befreiung im Zeitalter des Plattformkapitalismus

Christopher Wimmer

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Plattformen die Fabriken des 21. Jahrhunderts sind und Daten zur Ware werden. Wie verändert sich dabei die Arbeitswelt?

Wir haben es mit einer neuen gesellschaftlichen Betriebsweise im Kapitalismus zu tun. Das Kapital muss sich immer noch verwerten und jagt, wie Marx sagt, über den Globus. Das bleibt auch so, aber wir sind in einer neue Etappe, die geprägt ist von Informationsökonomie. Das Wesentliche am digitalen Kapitalismus ist, dass die Produktion und Verbreitung von Information über weltweite Netzwerke ins Zentrum der ökonomischen und sozialen Aktivität gerät. Algorithmen sind die Fließbänder dieser neuen Betriebsweise.

Das wirkt sich natürlich auch auf die Arbeit aus. Durch die Einführung von Minijobs, Ich-AGs oder digitaler Arbeit kommt es zu einer starken Vereinzelung der Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Möglichkeit der Solidarisierung auch über Gewerkschaften wird immer geringer. Die Einzelnen konkurrieren vielmehr und müssen andauernd ihr Humankapital in die Waagschale werfen.

Kann man dabei unsere Aktivitäten in sozialen Medien wie Facebook oder auf Versandplattformen wie Amazon als Arbeit bezeichnen?

Es gibt keinen Mastermind hinter diesen Entwicklungen. Auch bei Google sitzen keine Super-Bösewichter, die sich sagen: »Wir erfinden jetzt den Plattformkapitalismus.« Aber pointiert kann man schon feststellen: Wir alle sind das Proletariat. Weil wir alle auf diesen Plattformen in dem Sinn arbeiten, dass wird dort mit unserer Aktivität Daten generieren, die dann ausgebeutet werden können. Darüber hinaus entwickeln sich vielfältige neue Arbeits- und Ausbeutungsformen, etwa die Klick-Arbeit oder die »Auftritte« sogenannter Mikro-Selbständiger in der sogenannten Gig-Economy, also verschiedene Formen von Arbeit in Form von prekären Kleinstaufträgen oder Projekten in Miniatur, die alle die klassische, fest regulierte Lohnarbeit, die stark an die fordistische Phase gekoppelt ist, in der Tendenz zurückdrängen.

Kann uns bei diesen Veränderungen die Theorie von Karl Marx noch etwas sagen?

Ich habe »Das Kapital« aktuell noch einmal gelesen und darin spannende Parallelen zu unserer jetzigen Situation gefunden. Das Grundprinzip des sich verwertenden Werts ist immer noch prägend. Es geht immer noch zuerst und zuletzt um Profit. Aber auch menschengemachte Phänomene, die hinter unserem Rücken unser Handeln und Denken bestimmen, gibt es im digitalen Kapitalismus noch. Marx spricht vom Fetisch. Marx kann uns auch heute noch helfen mit seiner grundlegenden Kritik des Kapitalismus und seiner blinden Mechanismen, die nach wie vor am Werk sind.

Die angesprochenen neuen Formen von Onlinearbeit sind in einem globalen Maßstab weiterhin ergänzt durch ganz konkrete materielle Produktion. Jede Software braucht eine Hardware, auf der sie läuft - und die weiterhin in Fabriken hergestellt werden muss.

Wir leben nicht im viel zitierten Cyberkapitalismus, das stimmt schon. Es braucht immer noch Hardware. Vielleicht vernachlässige ich diesen Punkt ein wenig, aber ich würde dennoch sagen, dass die Produktion materieller Güter im Verhältnis zu den immateriellen sehr spürbar an Bedeutung verliert. Bei Smartphones kommt es auf die Apps an und weniger auf die Geräte. Mit den Apps wird richtig Geld verdient, während die Hardwarehersteller vergleichsweise schmale Gewinnmargen haben.

Aber diese Entwicklung beschränkt sich doch weitgehend auf Europa und Nordamerika. Verkennen Sie da nicht den weltweiten Zusammenhang des kapitalistischen Systems?

Die Gefahr besteht immer. Aber der Siegeszug der Information in allen Bereichen, die Etablierung von plattformkapitalistischen Logiken, die Auswirkungen auf Arbeitsverhältnisse und Subjektivität ist durchaus ein weltweites Phänomen. Global sind 70 Millionen Menschen auf digitalen Arbeitsplattformen angemeldet, Uber operiert in 72 Ländern, China wird zum Vorreiter dieser Entwicklung und so weiter.

Sie haben jüngst den Preis »Das politisches Buch« der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung erhalten. Bundesjustizministerin Katharina Barley (SPD) sagt in ihrer Laudatio, sie gebe ihren »Anspruch auf Regulierung und Regelsetzung auch im digitalen Bereich« nicht auf. Wie könnte dies konkret aussehen?

Das müssten sie Katharina Barley schon selbst fragen. Ich verstehe mich nicht als Politikberater. Gesetze und Regeln sind ja aber nichts Falsches. Auch sind sich alle einig, dass die Datenschutzgrundverordnung im Grunde schon richtig ist. Aber viele Regelungen kommen einfach zu spät und sind zu zahm.

Müsste der Staat in diesem Bereich mehr intervenieren?

Die Sozialdemokratie sucht ihre neue Aufgabe derzeit offenbar darin, den digitalen Kapitalismus zu versöhnen und zu bändigen. Das sollen sie auch ruhig versuchen. Ich orientiere mich da aber eher an Marx. Es geht um die Expropriation der Expropriateure. Eine solche Form der Enteignung oder Vergesellschaftung würde heute bedeuten, die Algorithmen offen zu legen, über ihre Ziele zu diskutieren und sie unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Bedürfnisse zu verändern. Da Unternehmen wie Google oder Facebook ja mittlerweile zur medialen Grundversorgung gehören, sollten solche Konzerne letztendlich in Commons überführt werden.

Die Maschinerie und die Technik sind ja nie unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen. Das Betriebsregime des Fließbands zum Beispiel wird man nie emanzipatorisch nutzen können, auch wenn einst nicht nur Lenin das »Taylorsystem« durchaus bewundert hat. Reicht dann in einem emanzipatorischen Sinn eine Offenlegung dieser Algorithmen oder braucht es auch einen ganz grundlegenden Wandel der Technologien?

Eine Offenlegung ist in einem solchen Sinn natürlich absolut nicht ausreichend, aber sie ist die Voraussetzung dafür, überhaupt eine Veränderung erreichen oder einleiten zu können. Heute ist es ja so, das diese Algorithmen »Black Boxes« sind, also Betriebsgeheimnisse, die von außen niemand richtig wirklich kennt und niemand versteht. Der Algorithmus zum Beispiel der Taxi-App Uber ist darauf zugeschnitten, möglichst große Gewinne zu generieren. Andere denkbare Ziele wie beispielsweise eine möglichst effiziente Fahrtaufteilung spielen dagegen allenfalls eine untergeordnete Rolle. Das ist auch der Unterschied dieser neuen Technologien zum Fließband: Ein Fließband bleibt ein Fließband, während dieser Algorithmus von Uber so umprogrammiert werden könnte, dass er zum Beispiel den öffentlichen Personennahverkehr effektiver zu organisieren hilft. Es gibt also Phänomene, Werkzeuge des Plattformkapitalismus, die emanzipatorisch genutzt werden könnten.

In dieser Richtung argumentieren ja auch Paul Mason in seinem Buch »Postkapitalismus« oder Nick Srnicek in »Die Zukunft erfinden«. Plattformen könnten den Kapitalismus in die Knie zwingen helfen, da auf ihnen durch die freie Zugänglichkeit von Informationen kein Profit mehr gemacht werden könnte. Teilen Sie das?

Mit Mason und Srnicek teile ich die Annahme, dass Information und Wissen immer wichtiger werden. Ich gehe aber nicht mit bei ihrer Konsequenz, dass das Primat von Information und Daten nicht mit dem Kapitalismus vereinbar sein soll - ganz im Gegenteil. Die Plattformökonomie ist die Antwort des Kapitalismus auf die aktuellen Vorgänge und es sieht so aus, als würde der Kapitalismus mit kostenlosen Informationen auch Gewinn machen können. Das Kapital findet sehr zuverlässig einen Weg, sich zu verwerten.

Wie könnte eine Digitalisierung unter antikapitalistischen Vorzeichen konkret aussehen?

Ich bin skeptisch bei vielen Graswurzelprojekten, die dann einfach sagen: »Wir machen unsere eigene Plattform, weil wir das besser können und das auch demokratischer ist.« Solche Vorhaben geraten schnell in Sackgassen. Entweder begeben sie sich in die Konkurrenz auf dem kapitalistischen Markt oder sie führen lediglich ein Nischendasein. Trotzdem gibt es gute Ansätze im kommunalen Bereich, wie zum Beispiel im Verkehr. Da müssen Daten in die öffentliche Hand und, wie gesagt, Algorithmen offengelegt werden, um beispielsweise den städtischen Verkehr besser organisieren zu können. Das sind Forderungen, die nicht direkt in einen Kommunismus führen, anhand derer man aber alternative Datenökonomien zu diskutieren und aufzubauen beginnen könnte.

Timo Daum: Das Kapital sind wir. Zur Kritik der digitalen Ökonomie. Nautilus, September 2017, 272 Seiten, 18 Euro