nd-aktuell.de / 14.07.2018 / Kultur

Singendes Erzählen

Die sizilianische Sängerin und Wahlberlinerin Etta Scollo stellte in der Ufa-Fabrik ihre neue CD vor

Antje Rößler

Sprache und Klang, Dichtung und Musik - das geht bei Etta Scollo Hand in Hand. Seit fast 15 Jahren widmet sich die italienische Sängerin der reichen Geschichte ihrer Heimat. Ihre neue Platte »Il passo interiore«, die sie in der Ufa-Fabrik vorstellte, vereint Textvorlagen aus fünf Jahrhunderten. Wort und Musik sind dabei untrennbar miteinander verbunden. »Das Wort muss wie Musik werden und seine Gewalttätigkeit ablegen. Nur so können wir wieder zu uns selbst finden und human werden«, ist Etta Scollo überzeugt. »In unserer mobilitäts- und schnelligkeitsversessenen Gegenwart vergisst man leicht, dass es lange Zeit viel wichtiger war, sich nach innen zu wenden.«

Die sizilianische Wahlberlinerin will diesen inneren Weg auf »Il passo interiore«, zu Deutsch etwa »Der innere Schritt«, wieder entdecken. »Es geht um den inneren Monolog, das subjektive Fühlen der Realität«, erklärt sie. »Das ist die wichtigste Reise eines Menschen; wichtiger noch als das Kommunizieren nach außen und geografische Ortswechsel.« Ihre innere Suche hat Etta Scollo musikalisch abgebildet. Sie vertonte ganz unterschiedliche Texte: von mystischen Versen bis zum politischen Aufruf, vom Liebesgedicht bis zum Zeitzeugen-Interview.

Dennoch fügt sich das Album zu einer Einheit. Dafür sorgt der wiedererkennbare Sound mit Klangfarben aus Renaissance, Barock und Mittelmeer-Folklore. »In meiner Musik wohnt die Idee des singenden Erzählens«, meint Etta Scollo. »Ich sehe auch Verbindungen zum Bänkelsänger und zur modernen Jazz-Improvisation.«

Die Musik klingt warm und besinnlich. Zum Farbenreichtum tragen Gastmusiker bei - an Akkordeon und Cello, Gitarre und Mandoline, Perkussion. Das erste Stück »T‘alzasti« ist inspiriert vom dem spanischen Mystiker Johannes vom Kreuz. Der langsame Anstieg der Melodie zeigt, wie der irdische Mensch Zuflucht in geistigen Sphären findet. Von der Freiheit der inneren Migration im sozialistischen Ungarn der 1950er Jahre spricht wiederum der Komponist György Ligeti. Etta Scollo singt seine Worte als melancholischen Walzer, begleitet von Klavier und Cello.

Im Gegensatz zum inneren Exil steht die erzwungene Emigration. Gegen dieses millionenfache Schicksal appellierte 2012 die damalige Bürgermeisterin von Lampedusa. Etta Scollo hat ihre wütenden, leidenschaftlichen Worte in folkloristische Klänge gefasst. »Heute, wo wir fast schon abgebrüht und zynisch über das Thema Flüchtlinge sprechen, strahlt diese Rede Poesie und zeitlose Humanität aus«, sagt die Sängerin.

Der Geist der Humanität leuchtet in weiteren Songs. So arbeitet Etta Scollo die Bergbau-Katastrophe von 1956 im belgischen Marcinelle in drei elegischen Liedern auf. Damals kamen bei einem Zechenbrand 262 Kumpel ums Leben, meist italienische Gastarbeiter. Etta Scollo vertonte Interviews mit Überlebenden und Angehörigen. Schließlich geht es um das Schicksal des Holocaust-Überlebenden Shlomo Venezia. Untermalt von einer düsteren Klarinette, klagt er Gott an: Warum warst du abwesend in den Gaskammern und Krematorien?

»All diese Geschichten haben sich wie von selbst um mich versammelt. Mein Gesang dient ihnen nur als Mittler«, erzählt Etta Scollo, die ihre eigene Stimme nie für herkömmlich schön hielt. »Ich musste immer viel üben, um sie weich zu bekommen.« Ein Makel ist das nicht. Etta Scollos intensiver, ausdrucksstarker Gesang lädt auch den Hörer zu einer inneren Reise ein.

Etta Scollo: »Il passo interiore« ( Jazzhaus Records)