nd-aktuell.de / 20.07.2018 / Kultur / Seite 16

Eine mörderische Bilanz

Hans Schafranek berichtet über das unheilvolle Wirken von Gestapo-Spitzeln im antifaschistischen Untergrund

Karlen Vesper

Im April 1944 nahm der Sozialdemokrat Adolf Reichwein, Mitglied des Kreisauer Kreises, Kontakt zum Kommunisten Anton Saefkow auf, der nach der Zerschlagung der Widerstandsgruppen um Robert Uhrig, Wilhelm Guddorf und John Sieg in Berlin neue Kontakte knüpfte und mit Franz Jacob und Bernhard Bästlein innerhalb von zwei Jahren ein über 500 Antifaschisten umfassendes Netzwerk knüpfen konnte, dem neben Arbeitern Ärzte, Lehrer, Ingenieure und Künstler angehörten. Am 22. Juni 1944 kam es zu einem konspirativen Treffen von Saefkow und Jacob mit Reichwein und dem vormaligen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Julius Leber. Es wurde die Einbindung der kommunistischen Widerständler in die Verschwörung um Claus Graf Schenk von Stauffenberg besprochen und ein zweites Treffen vereinbart, zu dem es nicht mehr kam. Der Gestapo war es gelungen, einen Spitzel in den Kreis um Saefkow, Jacob und Bästlein einzuschleusen. Am 4. Juli wurden Reichwein, Saefkow und Jacob verhaftet, in der Folge 280 ihrer Mitstreiter, von denen 104 ermordet wurden.

Es ist gut, das der Festvortrag zum diesjährigen offiziellen Gedenken an das Attentat auf Hitler sich dem - laut Ankündigung - «lange unterschätzten» Widerstand aus der Arbeiterbewegung gegen die Nazidiktatur widmet. «Unterschätzt» wurde dieser allerdings jahrzehntelang nur in Westdeutschland. Selbst die konservativen, aus der deutschen Elite stammenden Oppositionellen galten in der Bundesrepublik lange als «Verräter». Offenbar ist endlich ein Umdenken hinsichtlich der Breite des deutschen Widerstandes erfolgt, gewiss auch dank des Beharrens darauf durch die Mitarbeiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlins Stauffenbergstraße. Wobei man fragen darf, warum für den Festvortrag nicht etwa Hans Coppi, Bärbel Schindler-Saefkow oder Annette Neumann aus der ostdeutschen Historikerzunft auserkoren wurden, Kinder ermordeter Hitlergegner, die seit Jahr und Tag über den Arbeiterwiderstand forschen.

Gleich der Saefkow-Jacob-Bästlein-Organisation fiel auch die Uhrig-Gruppe, die nicht nur in Berliner Betrieben aktiv war, sondern Kontakte nach Essen, Hannover, Hildesheim, München und Hamburg sowie nach Prag, Kopenhagen und Tirol unterhielt, einem V-Mann der Gestapo zum Opfer. Darüber berichtet Hans Schafranek in seinem neuen Buch. Durch den 1931 nach Berlin ausgewanderten österreichischen Ingenieur Leopold Tomschik konnte Uhrig Gleichgesinnte im 1938 von Deutschland annektierten Österreich gewinnen. Doch bereits während seines ersten Tirol-Aufenthalts 1941 in Kitzbühl hat sich wahrscheinlich der Gestapospitzel Willi Becker, Deckname «Ernst», an seine Fersen geheftet. Auch die Fahrt des Berliner Werkzeugmachers mit KPD-Ausweis kurz darauf nach Wien blieb nicht unbeobachtet. «Dass er unbehelligt nach Berlin zurückehren konnte, weil die Zeit noch nicht ›reif‹ für eine Festnahme schien, war sicher auf eine entsprechende Anweisung der Berliner Gestapo an ihre Tiroler ›Kollegen‹ zurückzuführen», vermutet der renommierte österreichische Historiker.

Am 4. Februar 1942 schlug die Gestapo zu, verhaftete zeitgleich in Berlin, München und Tirol alle führenden Köpfe, neben Uhrig unter anderem Leo Tomschik, Beppo Römer, Walter Budeus, Willy Sachse und Anton Rausch. Die sich über Wochen erstreckende Verhaftungswelle erfasste 170 Hitlergegner, von denen 78 hingerichtet wurden. Von den 60 festgenommenen Tiroler Freunden der Uhrig-Gruppe wurden mindestens 16 vorm «Volksgerichtshof» angeklagt.

«Polizeispitzel waren keine Erfindung der Gestapo, und sie haben die NS-Ära überdauert», bemerkt Schafranek eingangs. Nach einem knappen Exkurs über die Geschichte des Spitzelunwesens in Österreich, das eine «Blütezeit» unter der Ägide von Fürst Metternich erlebte, berichtet der Autor über die Einrichtung der Gestapo-Leitstelle Wien bereits drei Tage nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 15. März 1938. Als Domizil wählte man das exklusive Hotel Métropole. Dienststellen der Gestapo machten sich auch in Graz, Linz, Salzburg, Innsbruck und Klagenfurt breit. Die Gestapo in Wien zählte bald mehr Mitarbeiter als die Berliner. 1941 waren es dort 834, in Prag 812, in der «Reichshauptstadt hingegen 712.

Die Zahl der Spitzel und V-Männer werde, so Schafranek, wohl nie mehr exakt zu eruieren sein. Gehaltslisten der Gestapo von 1941 registrierten 14 835 »Schnüffler«, davon 4000 außerhalb des »Reichs«. Im Gegensatz zu anderen Filialen konnte sich die Wiener Gestapo auf personelle Kontinuität stützen, rekrutierte sich auch aus den Behörden des austrofaschistischen »Ständestaates« - worin Schafranek »einen maßgeblichen Grund für deren mörderische Effizienz bei der Bekämpfung des antifaschistischen Widerstands« sieht. Die schon unter Dollfuß und Schuschnigg erfolgreichen V-Leute brachten als »Startkapital« ihr Wissen um einheimische politische Oppositionelle ein. Ein weiteres, die Wiener Gestapoleitstelle von anderen Dienststellen abhebendes Merkmal war die stattliche Honorierung der Spitzel, die das übliche Budget teils um das Fünffache überschritt. Besonders erfolgreiche V-Männer, so der vornehmlich gegen die kommunistische Untergrundbewegung eingesetzte Kurt Koppel (alias »Ossi«), konnten mit einem monatlichen Salär von 500 Reichmark rechnen, weiß Schafranek. »Selbst Herbert Behrendt, der erfolgreichste V-Mann des Berliner Gestapo-Kommissars Bruno Sattler, wurde für seinen Arbeitseifer lediglich mit 140 RM entschädigt.«

Geworben wurde nicht nur unter Berufskriminellen, sondern ebenso unter Sozialdemokraten und Kommunisten, insbesondere unter aus der Partei ausgeschlossenen Mitgliedern. Teils mit Erfolg, wofür der sozialistische Vize-Landeshauptmann des Burgenlandes Ludwig Leser sowie Anna Mönch, Gründungsmitglied der KPÖ, beschämende Beispiele sind. Die Antriebe, sich mit der Gestapo einzulassen, divergierten, reichten von Gesinnungslumperei über finanzielle Gier bis hin zur Angst vor neuerlichen Repressionen unter jenen, die bereits KZ oder Zuchthaus durchlitten hatten, informiert Schafranek. Es gab indes auch Fälle, in der eine Kooperation mit der Gestapo vorgegaukelt wurde, zum Schutz der konspirativen Arbeit. Nach 1945 ist dies vielfach missinterpretiert worden - mit tragischen Folgen. Auch die Taktik des »Trojanischen Pferdes«, ausgegeben von der illegalen KPD zur Infiltration von NS-Institutionen und Organisationen, sollte nach der Befreiung manch tapferem Genossen zum Verhängnis werden.

Bezüglich der sozialen Zusammensetzung zitiert Schafranek eine für das Rhein-Ruhrgebiet erstellte Übersicht, nach der Spitzel vorwiegend aus dem proletarischen Milieu stammten, vom Hilfsarbeiter über Schmied, Schneider und Schlosser bis hin zur Hausfrau. Inwieweit diese repräsentativ ist, sei dahingestellt. »Nicht alle Konfidenten erfüllten die in sie gesetzten Erwartungen.« Laut Protokoll einer Besprechung im Reichssicherheitshauptamt 1943 waren etwa 30 Prozent der V-Leute »nicht hundertprozentig in Ordnung«.

In speziellen Kapiteln beschreibt Schafranek die Unterwanderung des kommunistischen Widerstands, der Revolutionären Sozialisten und konservativer Widerstandsgruppen. Mit Neugier liest man, was er über »geplante und realisierte Vergeltungsaktionen« schreibt. Die Rache für den Tod so vieler hochanständiger, aufrechter Frauen und Männer gelang leider selten und war teils ambivalent. So konnte zwar ein von der Gestapo-Außenstelle Wiener Neustadt in eine Widerstandsgruppe von Zwangsarbeitern aus Osteuropa platzierter polnischer Spitzel nach der Verhaftung von vier Saboteuren enttarnt, in eine Falle gelockt und »unschädlich« gemacht werden. Als jedoch dessen Leiche aufgefunden wurde, arretierte die Gestapo auch noch die übrigen Angehörigen der antifaschistischen Zelle.

Es ist ein erschütterndes, traurig stimmendes Buch, zugleich ein notwendiges, historiographische Lücken füllendes. Zudem ein aktuell anmutendes ob des V-Männer-Skandals der Bundesrepublik, der mit dem NSU-Prozess offenbar wurde (und nur noch zu toppen ist, wenn gar Beate Zschäpe als V-Frau identifiziert wird). Unpassend ist allerdings der - wenn auch nur zahlenmäßige - Vergleich zwischen Spitzeln der Gestapo und IM der Stasi. Ob der mörderischen Bilanz des NS- Geheimdienstes verbietet sich dies.

Hans Schafranek: Widerstand und Verrat. Gestapospitzel im antifaschistischen Untergrund 1938 - 1945. Czernin-Verlag, 504 S., geb., 29,90 €.