Abschied von der Szene

Eine Erzählung. Von Theodor Weißenborn

  • Lesedauer: 7 Min.

Ich sitze im dörflichen Café aux Trois Tilleuls und blättre im »Combat«. Im Fernsehen nebenan tobt Louis de Funès über den Bildschirm. »Monsieur Dupont im Labyrinth der Behörden«. Auch so eine Serie, zu der ich die Erkennungsmelodie komponierte - diesen musikalischen Schwachsinn, dem ich meinen Wohlstand verdanke. Aristide Maillard schanzte mir die entsprechenden Aufträge zu. Verdrießlich blieb, dass meine übrigen Kompositionen, die aus meiner Sicht allererst zitabel waren, mir zwar die Mitgliedschaft in der Académie eintrugen, abgesehen davon aber kein Publikum fanden. Es gab, wie Maillard mir im Vertrauen erzählte, interne Umfragen, aus denen sich, was die Experimentalmusik betraf, eine durchschnittliche Hörerzahl von 38 ersehen ließ. Dies bestärkte mich in meinem Vorsatz, nun erst recht nur noch das Beste zu schaffen, dessen ich fähig war, um den Preis, dass meine Auditorien in Zukunft nur noch aus meinen Freunden, aus Piquet und Maillard, bestehen würden, zu denen sich allenfalls noch Erasmus gesellen mochte.

Diese drei, so beschloss ich, mussten mir hinfort genügen, und ich schätzte mich glücklich, weder allein noch einsam zu sein. Allein war ich in Paris ohnehin nicht. Es gab die unüberschaubare Menge all derer, die den Nobelpreis erwarteten, weil sie aux Deux Magots Café tranken und den »Figaro Litteraire« lasen, die immer up to date und nie auf der Höhe ihrer Existenz waren, weil sie das einzige, das ihre Not hätte wenden können, nicht fertigbrachten: sich zu versenken in einen Gegenstand und sich von ihm durchdringen, erheben und entführen zu lassen, egal wohin.

Theodor Weißenborn

Theodor Weißenborn wurde am 22. Juli 1933 in Düsseldorf als Sohn des akademischen Kunstmalers Karl Weißenborn geboren. Seine Mutter war Kunsterzieherin. Auch er studierte zunächst Kunstpädagogik, dann Philosophie, Germanistik und Romanistik. Später folgten Studien der medizinischen Psychologie und Psychiatrie.

Als Schriftsteller hat sich Theodor Weißenborn seit Anfang der 1960er Jahre vor allem durch zahlreiche sozialkritische Prosawerke und Hörspiele einen Namen gemacht.

Die Erzählung »Abschied von der Szene« hat uns der Autor zum Abdruck zur Verfügung gestellt. Foto: dpa/Harald Tittel

Daneben gab es die Bettler: anders als etwa die Politiker durchweg redliche, arglose Menschen, die mich nur insofern in Verlegenheit brachten, als ich nie so recht wusste, wie man ihnen helfen konnte, ohne sie zu beschämen. Und als Gesprächspartner gab’s die Concierges, die Studenten auf den Bänken im Luxembourg, die Bouquinistes an der Seine und tausend mehr oder minder verschrobene und verdrehte Zeitgenossen, von denen ich - mit Strohhut und Rohrstöckchen à la Maurice Chevalier - mich in puncto Spleenigkeit kaum unterschied. Am schlimmsten war aber die Gruppe der Telefonisten, die mich zu allen Tages- und Nachtzeiten anriefen, um mich zu Termingeschäften zu bewegen, um die Übernahme von Bürgschaften zu bitten oder auch nur, um mir - das sei wirklich wichtig! - mitzuteilen, dass Ernesto Cardenal bei Shakespeare and Company lese, dass Ingolf Jüterbog gestorben sei und dass Max Barnham am Himmelfahrtstag von der Spitze des Eiffelturms ein Tischtennisbällchen herabwerfen werde. Derlei Mitteilungen wirkten auf meinen Geist wie eine Lauge, nur mit dem Unterschied, dass ich mich nach solchen Waschgängen nicht gereinigt, sondern entkräftet fühlte und danach stets eines Schlucks starken Kaffees bedurfte, um konzentriert weiterarbeiten zu können.

Die Zudringlichkeiten und schließlich die Invektiven, die mir das Leben vergällten, setzten schon in den sechziger Jahren ein, als zunächst einige wenige, dann immer mehr Mitglieder der Académie Parisienne des Compositeurs entdeckten, dass sie politische Wesen seien, folglich engagiert zu sein hätten - was immer das bedeuten mochte - , und nun, ein jeder auf der Suche nach seinem Dreyfus, Pamphlete und Resolutionen verfassten, denen binnen Tagen Gegenresolutionen andersdenkender Akademiekollegen folgten, wobei der dialektische Prozess von Rede und Gegenrede munter eskalierte und zum Schluss, wenn die Argumente verbraucht waren, sich in Verbalinjurien und Verleumdungen entlud. Einige Male, weniger informiert und aufgeklärt als vielmehr moralisch in die Pflicht genommen, hatte ich solche Resolutionen mitunterzeichnet, befangen in dem Wahn, das Rechte getan zu haben, wenn ich nur laut genug »Pro bono! Contra malum!« rief, bis dann Gegeninformationen von seiten der jeweiligen Opposition mich schwanken machten - einmal so sehr, dass ich meine zuerst geleistete Unterschrift zurückzog und, den Scheffel meiner Narrheit rüttelnd, die meiner ursprünglichen Ansicht diametral entgegengesetzte Erklärung unterschrieb, die darin erst recht sich als unhaltbar erwies, was meine politische Naivität voll ins Licht der Öffentlichkeit rückte.

Dies verdarb meine Bereitschaft zum Engagement. Kein »J’accuse!« wollte sich nachmals meiner Kehle entringen, und wann immer Bitten um öffentliche Protektion mich in der Folge erreichten, leitete ich sie zur Prüfung weiter an die personifizierten moralischen Instanzen derer, die - zufälliger- oder bezeichnenderweise schwach in der künstlerischen Produktion - die Verbesserung der Welt zu ihrem Beruf gemacht hatten, in legibus, socialibus, oeconomicis et omnibus disciplinis unschlagbar waren und die, wo vielleicht doch einmal ein innerer Widerspruch, ein Mangel an Stringenz den Rang ihrer Rhetorik beeinträchtigte, die Kritik, die sich gegen sie erhob, zurückschmetterten kraft humanitärer und folglich unfehlbarer Gesinnung.

Wie mein Reden, so wurde aber auch mein Schweigen registriert, benotet und mir wie eine Schandtat vor Augen gehalten, und es war Lebrun-Goulatour, der Präsident der Académie, der mir im Jahr ’72 nach langem geduldigen Zuwarten schrieb, die Dimitrowa (seine Sekretärin) habe ihm zur Kenntnis gebracht, dass ich seit Jahren keine einzige der in der Académie verfassten Resolutionen unterzeichnet hätte, schlimmer als ein Hinterbänkler nicht einmal zu den jährlichen Hauptversammlungen erscheine und, wie Szrbinski und Coutumier bestätigt hätten, auch telefonisch zu keinerlei solidarischer Stellungnahme zu bewegen sei. Derlei Desengagement sei zwar nicht verboten, zeuge aber Irritation und Enttäuschung. Wer wie ich gegen Frankreichs Algerienpolitik protestiert und den Krieg der USA in Vietnam verurteilt habe, der könne, wenn es um Mittelamerika gehe, nicht schweigen, auch Kuba sei weiterhin ein Thema und in Mosambik gehe es immerhin um die Menschenrechte.

Dies meinte ich auch. Aber nicht deshalb, sondern weil Lebrun-Goulatour ein würdiger alter Herr war, der mein Vater hätte sein können, und allein um nicht unhöflich zu sein, antwortete ich ihm und nannte Gründe: die Resolutionen, die mir seitens der Académie zugingen, schrieb ich, setzten, gleichgültig ob sie aus dem Lager der Rechten oder der Linken stammten, stets ein ideologisches Vorverständnis voraus, das ich, seit ich mich nurmehr an Sachlagen zu orientieren suchte, in keinem Fall zu teilen bereit sei. Zugleich mangele es den Resolutionstexten an informatorischem Gehalt. Fakten, auf die man sich berufe, seien, entsprechend dem jeweiligen ideologischen Vorverständnis, tendenziös gefärbt und würden lediglich selektiv vermittelt. Das gleiche gelte für die Argumentation, in der jeweils alles, was die eigene Position zu verunsichern geeignet sei, sorgfältig ausgespart werde. Gleichgültig, ob dies in bewusst irreführender Absicht geschehe, fahrlässig unterlaufe oder auf unbewusster Verdrängung beruhe - das Ergebnis sei in jedem dieser Fälle nicht Aufklärung, sondern Umnachtung der Geister, sei einer Einrichtung, die den Namen »Académie« trage, unwürdig und wirke auf mich so anhaltend verdrießlich, dass ich den Verfassern der fraglichen Resolutionen empfehlen möchte, sich hinfort intellektueller Redlichkeit zu befleißigen sowie, wenn möglich, auf den korrekten Gebrauch des Subjonctifs zu achten. Im Übrigen sei psychologisch erwiesen, dass der menschliche Geist angesichts unlösbarer Aufgaben oder in nicht entscheidbaren Situationen ermatte, am fraglichen Problem jedes Interesse verliere und sich anderen, lohnenderen Gegenständen zuwende.

Postwendend erklärte Lebrun-Goulatour, dies sei schon immer die Ausrede feiger Indifferenz gewesen, und er zitierte den mir bekannten Satz Max Frischs: »Wer sich die parteiliche Stellungnahme ersparen will, hat sie schon vorweggenommen: Er dient der herrschenden Partei.« Und folgerichtig bat er mich zu bedenken, dass man auch durch Unterlassung schuldig werden könne. Auch dies war mir bekannt, und, schon leicht ermüdet, antwortete ich Lebrun-Goulatour, der von ihm zitierte und in sich höchst stimmige Ausspruch Max Frischs mutiere in seinem Munde zu blankem Nonsens, so dass man den Zitierten gegenüber seinem Zitator in Schutz nehmen müsse. Anders als Lebrun-Goulatour unter missbräuchlicher Benutzung des Zitats zu suggerieren suche, gebe es nämlich prinzipiell keinen Vorrang des Tuns vor dem Lassen, keinen Vorrang der Veränderung vor der Bewahrung!

Der Umstand, dass eine Partei herrsche, setze sie noch nicht ins Unrecht, und die Tatsache, dass die Opposition an die Macht strebe, also ihrerseits ihren Willen dem Andersdenkenden aufzwingen wolle, bürge weder für ihre größere Kompetenz in der Beurteilung von Sachfragen noch für ihre moralische Überlegenheit. Sollte er, Lebrun-Goulatour, mir jedoch auch nur einen einzigen vernünftigen Grund nennen können, weshalb die Wahrscheinlichkeit, durch Unterlassung schuldig zu werden, größer sei als die Wahrscheinlichkeit, durch Taten zu freveln, so bäte ich ihn um umgehende Mitteilung. Hierauf stürzte Lebrun-Goulatour in der Gascogne von einem Baum, als er für sein Enkelkind Kirschen pflücken wollte, und verstarb. (Wie das Naturgeschehen, in das auch das Menschenleben verwoben ist, überhaupt oftmals zusammenhanglos und unsinnig erscheint.)

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