nd-aktuell.de / 25.07.2018 / Politik / Seite 18

Ideengeschichte im Handgemenge

Die Zeitschrift »Arbeit Bewegung Geschichte« untersucht soziologische und politikwissenschaftliche Debatten der Neuen Linken

Markus Mohr

Unter der illustrativen Formel »Zauber der Theorie« widmet sich die jüngste Ausgabe der Zeitschrift »Arbeit Bewegung Geschichte« mit mehreren Beiträgen der Ideengeschichte der Neuen Linken in Westdeutschland. Die Texte sind aus einer vom Graduiertenkolleg »Geschichte linker Politik in Deutschland zwischen Sozialdemokratie und Parteikommunismus« organisierten Tagung am Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam vom Juli 2017 hervorgegangen.

Die Erkundungen der Historikerinnen reichen dabei von den für die Neue Linke ab Anfang der 1960er Jahre zentralen Universitätsfächern der Soziologie und Politologie über die Durchführung des legendären »Tunix«-Kongresses Anfang des Jahres 1978 an der Technischen Universität Berlin mit rund 20 000 Teilnehmerinnen bis zur »Was tun?«-Konferenz der Zeitschrift »konkret« in Hamburg aus dem Jahre 1993 mit etwa 1500 Besucherinnen.

Monika Boll erkundet in ihrem Beitrag die »Ortsbestimmungen« der westdeutschen Soziologie ab Ende der 1950er Jahre. Anhand der Protagonisten Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas auf der einen Seite sowie Helmuth Plessner und Max Horkheimer auf der anderen Seite zeichnet sie die Kontroversen nach, die um den Begriff der Entfremdung in diesem Fach geführt wurden - ein ganz zentrales Thema für die studentische Linke ab 1968. Gegen die theoretische Sanktionierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse reifte aus ihrer Sicht »die Idee der Entfremdung«, die angesichts von wirtschaftlichen Aufschwung und neuer Konsumgesellschaft in der frühen BRD an die Stelle der alten Theorien des Klassenwiderspruches und der Verelendung trat.

David Bebnowski widmet seinen Beitrag dem Wirken des Juristen und Politikwissenschaftlers Frank L. Neumann und den amerikanisch-deutschen Netzwerken nach dem zweiten Weltkrieg in West-Berlin. Im Ergebnis ging daraus das Otto Suhr-Institut hervor, dass noch heute an der Freien Universität Berlin existiert.

An eben diesem lehrte auch seit Beginn der 1960er Jahre bis zu seiner Emeritierung 1990 der eigentlich als Philosoph ausgebildete Johannes Agnoli. Michael Hewener unternimmt einmal eine Bestandsaufnahme von dessen grandiosem Aufsatz »Transformation der Demokratie« und räumt dabei in erfrischender Weise eine ganze Reihe von darüber verbreiteten Falschbehauptungen ab. Die Entscheidung der Heftmacherinnen sowohl Neumann wie auch Agnoli ausführlich in der Perspektive einer Geschichte der Neuen Linken zu würdigen, ist gut begründet: Beiden kommt gegen die Provinzialität der deutschen Universitätslandschaft der 1950er und 1960er Jahre der heute kaum zu überschätzende Verdienst zu, durch ihr Denken und Wirken die Türen zur Welt aufgestoßen zu haben.

Anina Falasca fokussiert sich in ihrem Beitrag über »spaßige Spontis« und »fröhliche Freaks« auf eine mutmaßliche theoretische Neuorientierung der Neuen Linken aus Anlass des »Tunix«-Kongresses 1978. Auch unter dem Eindruck der 2015 veröffentlichten Abhandlung von Philipp Felsch über den »langen Sommer der Theorie« hebt sie besonders die Bedeutung und den Einfluss der französischen Denker wie Focault, Lyotard Deleuze und Guattari auf diese »Neuorientierung« hervor. Leider bleibt dabei ein quellenkritisch reflektierter Abstand zu der Studie von Felsch auf der Strecke.

Der Aufsatz von Jana König besticht durch den Einfall mit dem »Tunix«-Kongress und der 15 Jahre später durchgeführten »Was tun?« - Konferenz zunächst einmal einen Apfel mit einer Banane zu vergleichen. Sie bindet aber beide Ereignisse geschickt in der Perspektive einer linken Krisenbewältigung als eine, wie sie formuliert, »theoretische, praktische und emotionale Weltaneignung« zusammen.

Wohl wahr: Theoretische Reflexion auf die historischen Umstände wie eben auch der Einbezug der Ebene der subjektiven Erfahrung fördern das Bewusstsein, das die gesellschaftlichen Entwicklungen prinzipiell offen und damit eben auch immer veränderbar sind. Mit der Folge, und hier ist König vorbehaltlos zuzustimmen, »die Suche nach neuen Wegen niemals aufzugeben.«

Der von der Tagung des Graduiertenkollegs übernommene Titel: »Zauber der Theorie« ist im Anbetracht der im Heft dokumentierten Beiträge nicht ganz überzeugend. Insoweit sich die Verfasserinnen mit ihren gehaltvollen Abhandlungen immer wieder auch auf die Auseinandersetzungen fokussieren, die eben die besagten neuen Ideen zwischen einer Vielzahl von Beteiligten provozierten, ließe sich hier vielmehr von einem Zauber des theoretisch profilierten Handgemenges sprechen. Klar ist doch hier allemal, dass sich die Transformation von linker Theorie in umwälzende Politik und Praxis - damals wie heute - nicht als Deckchensticken wird realisieren können.

Arbeit Bewegung Geschichte / 2018/II Schwerpunkt: Zauber der Theorie. Ideengeschichte der neuen Linken in Westdeutschland, Metropol - Verlag, 14 Euro.