nd-aktuell.de / 30.07.2018 / Kultur / Seite 16

Unter der Sonne des Todes

Marina Perezagua gelang das Wagnis, über Hiroshima und die Folgen einen Roman zu schreiben

Sabine Neubert

Vom Atombombenabwurf über Hiroshima kennen wir die Bilder und immer wiederkehrende Berichte über die Zerstörungen und Verstrahlungen. Ein Buch, das das ganze Ausmaß der Folgen für die überlebenden in einer Romanhandlung zu erfassen versucht, hat es, zumindest im europäischen Raum, bisher noch nicht gegeben. Es ist wohl tatsächlich ein gewagtes Unterfangen, die lebenslangen traumatischen Auswirkungen seelischer und körperlicher Verletzungen in eine Romanhandlung zu binden. Und das in zeitlicher Distanz, der der unmittelbare Zugang zum Geschehen schon fehlt.

Die in New York lebende Spanierin Marina Perezagua hat es versucht, ihr ist ein vielschichtiger, handlungsreicher und problembeladener (mitunter überladener) Roman gelungen, in dem sich immer wieder Abgründe von Schmerz und Dunkelheit auftun, letztendlich aber weibliche Kraft obsiegt. Es ist ein Hoffnungsroman trotz allem.

»Aber die Bombe war kein Unfall, es ist nicht einmal hinnehmbar, dass sie eine Explosion war. Hiroshima war DIE Explosion ... Ich kam zu dem Schluss, dass ich, wenn ich einen Namen für uns bestimmen sollte, ›wir mit der Bombe in uns‹ wählen würde, weil nämlich der Morgen, an dem ein B-29-Bomber Little Boy über Hiroshima abwarf, nur der Beginn der Detonation war.«

Neunzig Prozent des Schadens, den die Überlebenden erlitten, würden Jahr für Jahr in kleinen tödlichen Dosen erfolgen. So lässt es die Autorin die Protagonistin des Romans, die sich »H.« (wie Hiroshima) nennt, im Jahr 2014 resümieren. H. ist eine Überlebende des Atombombenabwurfs. Ihr »letztes Zeugnis«, das sie als alte Frau in Haft nahe einem Flüchtlingslager im Kongo niederschreibt, ist weder Geständnis noch Rechtfertigung irgendeiner Straftat, von der wir nichts Genaueres erfahren. Ihr Zeugnis ist, so H., eine Aussage. Es ist eine Anklage gegen Krieg, Gewalt und Zerstörung, ein Plädoyer für das Recht auf Unversehrtheit und weibliche Identität.

Wie weit die Welt im Jahr 2014 davon entfernt ist, auch davon handelt dieses Buch. Das unfassbare Ausmaß der Vernichtung beginnt hier mit dem Bombenabwurf, und es setzt sich fort bis hin zu der Sklavenarbeit und den Vergewaltigungen in den Kobalt- und Uranminen der Dritten Welt, in Chondo und Shinkolobwe in Namibia.

Marina Perezaguas Buch ist allerdings auch ein Liebesroman - ein außergewöhnlicher. H., damals ein Schulkind, gehört zu den wenigen, die den Schwarzen Regen der »Sonne des Todes« überleben. Körperlich und seelisch verletzt, liegt sie monatelang im Krankenhaus. Im Jahr 1960 lernt sie in New York Jim kennen, einen US-amerikanischen Kriegsveteranen. Auch er trägt schwer an den Qualen und Verletzungen der Vergangenheit, die ihm während des Krieges und in der japanischen Kriegsgefangenschaft zugefügt worden sind. Beide sind auf der Suche, beide werden ein Paar, »ein Spürteam«, wie H. später einmal sagt. H. ist als Hermaphrodit, mit halbem Uterus, geboren worden. Ihr zu kleiner Penis wurde durch die Bombe verbrannt. Verstümmelt und »Opfer von Geburt«, sehnt sie sich lebenslang nach Mutterschaft. Jim hatte nach dem Krieg die kleine Yoro adoptiert. Sie wurde ihm aber kurze Zeit später wieder ohne Angabe einer neuen Adresse entzogen oder entführt. »Yoro« heißt im Spanischen »weinen«, sagt H. Später werden wir erfahren, dass Yoro zu den Opfern amerikanischer Verstrahlungsuntersuchungen gehörte. H. und Jim reisen zusammen in viele Länder der Welt, obsessiv suchen sie nach der Tochter. Überall begegnen ihnen Menschen, vor allem Frauen, die Opfer von Brutalität geworden sind. Als Jim stirbt, setzt H. ihre Suche allein fort. Ihr Leben wird zum Kampf für die Rechte von Frauen.

Aus Afrika ist ein Lebenszeichen von Yoro gekommen, dort glüht ein wenig Hoffnung auf. Aber dann steigt H. in die höllischen Tiefen. Die Autorin hat den Roman statt in Kapitel in neun »Monate« unterteilt, analog zu einer Schwangerschaft. H.s Leben durchläuft diese Stationen zur Traumabewältigung. Das Ende heißt »Entbindung«. Eine Neu-Geburt ist zwar unmöglich, vielleicht wird jedoch der Kreislauf der Gewalt durchbrochen.

Marina Perezagua: Hiroshima. Roman. Aus dem Spanischen von Silke Kleemann. Klett-Cotta, 374 S., geb., 24 €.